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Danke, SPD!

 

Die SPD hat ein neues – und zwar sehr gutes – Sozialstaatskonzept vorgestellt. Das enthält nicht nur eine Reihe von wichtigen Einzelmaßnahmen, um den Sozialstaat gerechter und besser zu machen. Vor allem bricht die SPD mit dem Weltbild, das der Reform- und Agendapolitik zugrundelag. Man könnte sagen, dass sie damit wieder ein bisschen mehr Willy Brandt wagt, auf jeden Fall aber sehr viel weniger Gerhard Schröder.

Durch die Agendapolitik war das eigentlich so schöne Wort „Reform“ für die meisten Menschen zu einem Unwort geworden: Seit Gerhard Schröder ist es zum Synonym für den Abbau von Sozialstaat und ArbeitnehmerInnenrechten geworden.

Dabei bedeutete das Wort Reform mal genau das Umgekehrte. Als Willy Brandt 1972 mit dem Slogan „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“ in den Wahlkampf zog (und 45,8 (!) Prozent der Stimmen holte), ging es explizit darum, die Märkte in den Dienst der Menschen zu stellen und nicht umgekehrt. „Reform“, das war ein Wort, das die Sozialdemokratie in gleichem Maße gegen die Kommunisten wie gegen die reinen Kapitalisten einsetze: Die historische Erfahrung hatte gezeigt, dass eine Revolution wie in Russland die Lage der Menschen nicht nur nicht verbesserte sondern sogar noch verschlechterte. Vielmehr ging es den Sozialdemokraten in der Nachkriegszeit darum, im Hier und Jetzt auf demokratische Weise – und auch im Rahmen der Marktwirtschaft – in kleinen, aber konkreten Schritten die Lage der Mehrheit der Menschen zu verbessern. Der Markt sollte genutzt, aber das Primat demokratischer Politik musste erhalten und ausgebaut werden.

Ganz anders war Schröders Agenda aufgesetzt. In seiner Regierungserklärung zu den Reformen 2003 sagte er: „Niemandem […] wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen.“ Man erinnere sich: Das war die Zeit der Massenarbeitslosigkeit Anfang der 2000er Jahre. In der Schröder’schen Lesart waren die Menschen selbst für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich und der Sozialstaat eine Art Hängematte für die Faulen, der sie vom Arbeiten abhielt.

Besonders prägnant brachte es das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter dem damaligen SPD-Arbeitsminister Wolfgang Clement auf den Punkt. In einem Dokument mit dem Titel „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“, schrieb das Ministerium nach der detaillierten Beschreibung eines Sozialmissbrauchfalls eines Herrn Ibrahim, „Sänger aus dem Libanon“: „Biologen verwenden für ‚Organismen die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben‘, übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten'“. Die AfD hätte es nicht besser formulieren können.

Der Sozialstaat galt plötzlich nicht mehr wie bei Willy Brandt als Mittel, Freiheit und Würde auch bei Schicksalsschlägen wie Arbeitslosigkeit zu bewahren, sondern als Mittel zur egoistischen Selbstbereicherung. Es ging darum, jeden vermeintlichen Missbrauch auszuschließen. Damit wurde die Mehrzahl der Menschen, die sich aus Not an den Sozialstaat wendeten, pauschal als potenzielle „Parasiten“ vorverurteilt. Wen wundert es, wenn gerade diejenigen, die am ehesten auf den Sozialstaat angewiesen sind, nicht mehr Sozialdemokratie wählen?

Das heißt freilich nicht, dass es nicht auch Sozialmissbrauch gibt, der bestraft und verhindert werden muss. Das ist schon allein deswegen wichtig, um die Legitimität des Sozialstaats zu erhalten. Aber es geht darum, dass nur eine kleine Minderheit den Sozialstaat missbraucht. Im Oktober 2018 wurden nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit nur 3,3 Prozent der arbeitsfähigen Hartz IV-Empfänger durch Kürzungen ihrer Leistungen sanktioniert. Unter diese 3,3 Prozent fallen aber nicht nur schwere Fälle von Missbrauch. Zum weit überwiegenden Teil wurden Sanktionen verhängt, weil Leute es versäumt haben, sich rechtzeitig bei der Agentur zu melden. Das heißt, die Mehrheit der Menschen darf nicht pauschal unter Sozialmissbrauchsverdacht gestellt werden, selbst wenn eine geringe Minderheit das System ausnutzen sollte.

Die SPD entdeckt den Sozialstaat neu

Genau deswegen ist so wichtig, was jetzt im neuen SPD-Papier steht: Politik müsse von dem Grundsatz ausgehen, dass „die Menschen den Sozialstaat brauchen und nicht missbrauchen“, dass der Sozialstaat ein „soziales Recht“ ist und „empathisch, unterstützend und bürgernah“ sein muss. Hinter den vielen vorgeschlagenen Maßnahmen steht ein ganz anderes Menschenbild als noch in der der Schröder / Clement-Ära.

Nun geht es nicht nur darum, die Herzen der Menschen mit schönen Worten für sich zu gewinnen – obwohl man das nicht zu gering schätzen darf. Vor allem geht es darum, die sozialen Probleme zu sehen und klug und gezielt darauf zu antworten. Das tut die SPD mit ihrem neuen Konzept (endlich).

Die vielen Einzelmaßnahmen wie die Verlängerung des Arbeitslosengeld I-Bezugs, die Einführung eines Bürgergeldes anstelle von Hartz IV sowie die Stärkung der Tarifbindung sind aufeinander aufbauend und gehen das zentrale soziale Problem in Deutschland an: die hohe Ungleichheit der Einkommen, die auch bei hohen BIP-Wachstumsraten und Rekordbeschäftigung nicht gesunken ist. Dabei zielen die Maßnahmen nicht nur auf geringe Einkommen, sondern haben auch der Mittelschicht etwas zu bieten. Das ist wichtig, weil in den Reformdebatten der Vergangenheit zu oft die Mittelschicht gegen die Ärmeren ausgespielt wurde.

Zwei wesentliche Ursachen für die steigende Lohnungleichheit waren die Erosion der Tarifbindung und die Sozialstaatsreformen. Die Sozialstaatsreformen – besonders die Verkürzung von Arbeitlosengeld I auf nur noch ein Jahr (1,5 Jahre für Ältere) und die Einführung von Hartz IV – haben vielen Menschen Angst gemacht, beim Arbeitsplatzverlust schnell ökonomisch und sozial abzustürzen. Diese Angst hat sie sehr viel gefügiger gemacht, auf Lohnsteigerungen zu verzichten, um ihren Arbeitsplatz behalten zu können.

Gleichzeitig hat die starke Abnahme der Tarifbindung die Ungleichheit weiter erhöht. Arbeiteten 1998 noch 76 Prozent der Beschäftigten in West- und 63 Prozent in Ostdeutschland in Betrieben mit Tarifbindung, waren es 2017 nur noch 57 Prozent im Westen und 44 im Osten. Die Erosion der Tarifverträge hat besonders den Menschen mit geringen Einkommen geschadet, weil sie dadurch zunehmend in Sektoren ohne starke Tarifbindung arbeiten. So kam sogar eine Bertelsmann-Studie zu dem Ergebnis, dass ein großer Teil der steigenden Lohnungleichheit auf fehlende Tarifverträge zurückzuführen ist.

An beiden Punkten setzt die SPD jetzt an: Die Menschen sollen sich wieder darauf verlassen können, dass der Sozialstaat das Lebensrisiko Arbeitslosigkeit besser abfedern kann. Gleichzeitig sollen über eine stärkere Tarifbindung und einen höheren Mindestlohn die Löhne stärker erhöht werden, besonders am unteren Rand.

Das wichtigste Instrument des Staates, um die Tarifverträge wieder zu stärken, ist die Allgemeinverbindlicherklärung. Das ist die Möglichkeit, den Tarifvertrag, den einzelne Arbeitgeber und Gewerkschaften für Unternehmen einer Branche ausgehandelt haben, auf die ganze Branche auszuweiten. Das heißt, dass auch Beschäftigte und Unternehmen in den Genuss von Tarifverträgen kommen, die bis jetzt keinen Vertrag haben.

Die Möglichkeit zur Allgemeinverbindlicherklärung gibt es zwar auch jetzt schon. Aber die Arbeitgeber können mit einem einfachen „Njet“ verhindern, dass die Tarifverträge auf eine ganze Branche ausgeweitet werden. Dieses Vetorecht soll nach den Vorstellungen der SPD fallen und die Allgemeinverbindlicherklärung damit stärken. Mitsamt der Forderung nach einem deutlich höheren Mindestlohn von 12 Euro könnte das besonders – aber nicht nur – in den unteren Lohngruppen zu deutlich stärkeren Lohnsteigerungen führen. Das hätte das Potenzial, die Lohnungleichheit wieder abzubauen.

Bei Arbeitslosigkeit soll zum einen die Länge des Bezuges von Arbeitlosengeld I mehr an die Einzahlungszeit gekoppelt werden. Das würde eine von vielen beklagte Ungerechtigkeit beseitigen, nach der Menschen mit langen Einzahlungszeiten nicht mehr aus ihrer Versicherung herausbekommen als Menschen, die kaum etwas eingezahlt haben. Zum anderen soll vermehrt als bisher auf Weiterqualifizierung von Arbeitslosen gesetzt werden und Arbeitslose einen Anspruch – keine Pflicht! – auf gezielte Weiterqualifizierung erhalten.

Vor allem Hartz IV soll grundlegend reformiert und zu einem „Bürgergeld“ ausgebaut werden. Dabei will die SPD die größten Ungerechtigkeiten des Systems endlich ausschalten: Heute ist es möglich, unter 25jährigen selbst bei kleinsten Verstößen gegen Auflagen des Arbeitsamtes die gesamte Zuwendung zu streichen, auch die Kosten für die Wohnung. Damit können junge Menschen in die Obdachlosigkeit gedrängt werden.

Auch das Vermögen und die Wohnungsgröße soll zwei Jahre lang nicht überprüft werden. Gerade bei den jetzt stark steigenden Mieten kann der Zwang des Arbeitsamts zum Umzug zur sozialen Entwurzelung führen. Besonders in den Großstädten fehlen im Moment die bezahlbaren Wohnungen, auf die gerade Menschen in der Grundsicherung angewiesen sind.

Besonders dramatisch ist, dass heute viele Kinder Hartz IV erhalten und fast jedes fünfte Kind armutsgefährdet aufwächst. Die SPD will eine eigene Kindergrundsicherung einführen, die viele Leistungen, die es jetzt schon gibt (Kindergeld, Kinderzuschlag, Kinderfreibetrag, Mittel der Grundsicherung) zusammenfasst und dem Einkommen der Eltern entsprechend an die Familien zahlt. Schließlich war Hartz IV ursprünglich nicht dazu gedacht, Menschen in Armut zu halten, sondern sie in Arbeit zu bringen. Ein Großteil der Menschen, die heute Hartz IV erhalten, sind aber gar nicht arbeitslos, sondern stocken ihr Gehalt mit der Grundsicherung auf.

Die Hoffnung wäre, dass steigende Tarif- und Mindestlöhne dazu führen, dass wieder mehr Menschen ohne Hartz IV-Aufstockung ihren Lebensunterhalt verdienen können. Das würde nicht nur die Grundsicherung stark entlasten, sondern den Menschen auch wieder mehr Würde geben.

Nun schweigt sich das Konzept aber an einem zentralen Punkt aus: Wie soll das alles finanziert werden? Steigende Löhne durch höhere Mindest- und Tariflöhne könnten zwar auf der einen Seite für viele dazu führen, dass sie gar nicht mehr auf Grundsicherung angewiesen sind und gleichzeitig mehr Beiträge und Steuern zahlen. Das könnte für sich genommen zu weniger Ausgaben und mehr Einnehmen für den Staat führen. Ob das aber allein zur Finanzierung reichen wird, ist zumindest ungewiss und müsste genau berechnet werden.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird mehr Steuergeld im Grundsicherungssystem gebraucht werden; und eventuell auch höhere Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, um die längeren Arbeitslosenzeiten und den Anspruch auf Qualifizierung zu finanzieren. Das beißt sich freilich mit den Plänen des Koalitionsvertrages, den Solidaritätszuschlag für viele Steuerzahler abzuschaffen. Das wird zu hohen Steuerausfällen führen.

Die Frage der Finanzierung ist keine Kleinigkeit: An ihr hängt, wie ernst es die SPD mit ihrem Konzept meint und wie bereit sie ist, für ihre guten Ideen auch dann zu kämpfen, wenn damit höhere Steuern und Sozialbeiträge verbunden sind. Das ist auch deswegen nicht trivial, weil die SPD bei vielen potenziellen Wählern durch die Reformen der Vergangenheit stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Ein – wenn auch sehr gutes – Konzept allein wird diese Glaubwürdigkeit nicht wiederherstellen können.

Auch werden die neuen Ideen nicht in wenigen Monaten zu starken Stimmenzuwächsen führen. Wie schon bei der Bundestagswahl von 2013 könnten Wahlverluste der SPD in den anstehenden Landtags- und Europawahlen dazu führen, dass einige in der SPD und den Medien das nutzen, um sich wieder vom neuen Sozialstaatskonzept zu verabschieden, nach dem Motto, der „Linksschwenk“ der SPD hätte Wähler „der Mitte“ verschreckt. 2013 hatte die SPD noch Steuererhöhungen zur Bekämpfung der Ungleichheit gefordert. Nach der verlorenen Wahl hat sie sich von dieser Forderung schnell wieder verabschiedet. Ohne den langen Atem wird ein Aufbau von Glaubwürdigkeit nicht gelingen können. Den wünsche ich der SPD.

(Aktualisiert am 15.02.2019 um 16:59 Uhr)