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Mehr Zuwanderer bitte!

 

Weil so viele Leute Angst vor Terror haben und das mit der Ankunft überwiegend muslimischer Flüchtlinge verbinden, spielte die Frage, wie denn die Ausländer draußen gehalten werden können, eine unverhältnismäßig große Rolle in der Debatte zwischen Angela Merkel und Martin Schulz am Sonntagabend. Es war eine deprimierende Diskussion. Keiner der beiden Kandidaten wagte es, die Zuwanderung als etwas Positives zu beschreiben, als eine Bereicherung unserer Gesellschaft und aus demographischen Gründen unverzichtbar. Den beiden ängstlichen alten Leuten fehlte ganz offensichtlich der Mut, zu sagen, dass es ohne Ausländer auf Dauer nicht gehen wird und dass uns ihre Integrierung keineswegs überfordern wird. Statt sich mit den Chancen der Zuwanderung zu beschäftigen, oder damit, wie viele Menschen jährlich zu uns kommen sollten, und woher, wurde nur defensiv und rückwärtsgewandt argumentiert. Ich weiß, dass hierzulande von Politikern vor allem verlangt wird, dass sie die Sicherheit der Menschen gewährleisten, aber wie wäre es ab und zu mit ein bisschen mehr Zuversicht und Perspektive? Wo wollen wir hin?

Vermutlich werden, überschlägig gerechnet, pro Jahr brutto etwa 800.000 Zuwanderer benötigt. Das entspricht etwa einem Prozent der Bevölkerung. Dabei nehme ich an, dass die Geburtenrate weiterhin bei 1,1 Kindern pro Frau liegen wird (2,1 Kinder sind bekanntlich nötig, wenn die Bevölkerung nicht schrumpfen soll), dass netto Jahr für Jahr etwa 50.000 Deutsche wegziehen, dass die Lebenserwartung ständig zunimmt und dass das Verhältnis Erwerbstätige zu Nicht-Erwerbstätigen nicht zu sehr zurückgehen soll, dass also nicht immer mehr Kinder und Rentner von der beruflich aktiven Bevölkerung „durchgefüttert“ werden. Man könnte alternativ das Eintrittsalter bei der Rente auf 75 Jahre anheben – das kann aber nicht die Lösung sein.

Klar, das ist eine grobe Schätzung, aber sie gibt eine Vorstellung von der Größenordnung, um die es geht. 100.000 oder 200.000 Zuwanderer reichen jedenfalls nicht.

Es wird immer so getan, als gäbe es in der Welt gar nicht genügend Akademiker und Fachkräfte, die als Zuwanderer infrage kommen. Das ist aber gar nicht das Thema: Sowohl hochqualifizierte als auch weniger qualifizierte Menschen tragen zu einer effizienteren Arbeitsteilung im Land bei und steigern damit die Produktivität, die Quelle allen Wohlstands. Es gibt ja viele harte, langweilige und schlecht bezahlte Jobs, die die Einheimischen gar nicht mehr machen wollen, bei denen es nicht so sehr darauf ankommt, ob man die Sprache beherrscht oder gut rechnen kann. Auch Ungelernte sollten willkommen sein. Alles natürlich im vernünftigen Rahmen.

Und es ist ziemlich, wenn nicht sogar vollkommen unwichtig, an welchen Gott die Zuwanderer glauben und welche Hautfarbe sie haben. Am wichtigsten ist, dass sie die demokratischen Werte, wie sie im Grundgesetz definiert sind, bewusst akzeptieren. Das muss im Verlauf des Integrationsprozesses rübergebracht werden.

Vor einigen Tagen haben Robert Rowthorn und David Ruzicka in einem Beitrag für den Project Syndicate-Blog darauf hingewiesen, dass Menschen aus fremden Kulturen die Gesellschaft ihrer Gastländer stets durch ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten und Ideen bereichern. In den USA seien mehr als 40 Prozent der Fortune-500-Unternehmen durch Einwanderer der ersten und zweiten Generation gegründet worden, einschließlich Google, Apple und Amazon. Das heißt natürlich auch, dass man darauf achten muss, dass die Einwanderer aus möglichst vielen verschiedenen Ländern kommen sollten und sich keine ethnischen Gettos bilden.

Niemand muss fürchten, dass die finanziellen Belastungen für die Integration der Neuankömmlinge die staatlichen Haushalte überfordern. Selbst wenn jährlich 15 Mrd. Euro erforderlich sein sollten, sind das nicht mehr als 0,46 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Im Grunde handelt es sich um Investitionen in „Humankapital“, also nicht um Konsumausgaben des Staates – sie erhöhen tendenziell die Wachstumsrate des Produktionspotenzials. Zum Vergleich: Für Ausrüstungen, Bauten und andere Investitionen werden zurzeit jährlich insgesamt etwa 660 Mrd. Euro in Deutschland ausgegeben, was einer Investitionsquote von 20,4 Prozent (am BIP) entspricht. Bei Investitionen, zum Beispiel beim Bau eines Hauses, erwartet niemand, dass sich der Nutzen schon am Tag Eins einstellt. Für die berufliche Qualifizierung der Zuwanderer gilt das genauso.

In der Debatte zwischen Merkel und Schulz wurde die Weigerung Polens, Ungarns und anderer EU-Länder, Flüchtlinge aufzunehmen, als Vorwand benutzt, erst mal auch unsererseits die Grenzzäune hochzuziehen, jedenfalls bis eine einvernehmliche europäische Lösung gefunden ist. Dazu wird es aber nicht kommen. Ich denke, dass in der Asylfrage das Einkommensniveau eines Landes, die Arbeitslosigkeit und bereits vorhandene Minderheiten- und Zuwanderungsprobleme berücksichtigt werden sollten.

Grafik: Lohnentwicklung in Osteuropa und Türkei

Wie die obige Grafik zeigt, stagnieren etwa in Polen die relativen Löhne seit Jahren bei etwa 30 Prozent des Niveaus im Euroraum. Das Land ist arm. Zudem arbeiten angeblich etwa ein Million Ukrainer im Land, die noch viel weniger verdienen. Sie nehmen den weniger qualifizierten Polen die Arbeitsplätze weg und zwingen sie, sich ihrerseits im Westen Jobs zu suchen. Schengen macht’s möglich. Kurz, es ist sehr verständlich, dass das Land keine weiteren Zuwanderer aufnehmen möchte. Im gesamten Osten der EU wird das ähnlich gesehen, so dass eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik ganz unwahrscheinlich ist und das Warten darauf auf eine Aufweichung des deutschen Asylrechts hinausläuft. Ein gemeinsamer militärischer Schutz der Außengrenzen hat demgegenüber viel bessere Chancen. Leider glauben fast alle Politiker, mit einer besseren Abwehr von Zuwanderern punkten zu können.

Ich denke, dass eine Bruttozuwanderung von 800.000 pro Jahr eine Art Obergrenze sein sollte. Je nachdem wie viele Asylberechtigte es gibt und wie viele Menschen aus dem Osten der EU bei uns arbeiten wollen, bliebe für Einwanderer aus der übrigen Welt eine sehr variable Quote übrig. Vielleicht sollte der Wert von 800.000, besser vielleicht noch von einer Million, nicht Jahr für Jahr, sondern im Durchschnitt über einen längeren Zeitraum hinweg erreicht werden.

Es kann angesichts der Ressourcen, über die Deutschland verfügt, und der unstrittigen Vorteile einer substanziellen Einwanderung nicht sein, dass die Integration auf einmal nicht mehr zu schaffen ist. Wie die folgende Grafik zeigt, befürchten nur Wenige, dass ihnen die Ausländer die Jobs wegnehmen werden. Ihr Gefühl entspricht dem, was Ökonomen in der jetzigen konjunkturellen Lage für wahrscheinlich halten.

Grafik: Schaffen Migranten neue Arbeitsplätze oder nehmen sie sie anderen weg?