Exklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: Sind Lehre und Forschung in den Wirtschaftswissenschaften breit genug angelegt? Oder gibt es eine Dominanz des sogenannten Mainstreams, die den Blickwinkel der ökonomischen Disziplin derart verengt, dass sie ihrem Forschungsgegenstand weder methodisch noch in seiner ganzen Vielfalt hinreichend gerecht wird, was sich dann auch in der Praxis und der Art der wirtschaftspolitischen Beratung widerspiegelt? Tatsächlich gehört die Debatte über Pluralität seit Jahren zum Grundrauschen des ökonomischen Diskurses und im Gefolge der Finanzkrise wurde sie auch für eine breitere Öffentlichkeit hörbar geführt. Nach wie vor wird der Zustand dieser Wissenschaft höchst unterschiedlich beurteilt. In der Dezember-Ausgabe des Wirtschaftsdienst geben die Autorinnen und Autoren des aktuellen Zeitgesprächs ihre jeweilige Sicht der Dinge wieder.
Johannes Becker, Finanzwissenschaftler der Universität Münster, nennt als Grundsatz: „Eine plurale, multiperspektivische Ökonomik ist nicht nur bessere Wissenschaft, sie ist auch interessanter und attraktiver für die Besten eines Jahrgangs.“ Er weist darauf hin, dass in den englischsprachigen Top-Journals und auf internationalen Fachkonferenzen schon jetzt methodische Pluralität stattfindet. Vor allem jüngere Ökonomen seien besonderes begierig auf neue Methoden und neue Datenquellen. Zwar ähnele sich die in Deutschland praktizierte Lehre in Bezug auf die vermittelten Grundlagen stark, aber das sei auch nötig, weil Masterabsolventen dazu fähig sein müssten, Fachliteratur zu verstehen und die gängigen Methoden anzuwenden. Daher hält Becker die Maxime „je pluraler, desto besser“ für ungeeignet und stellt stattdessen fest, dass Pluralität nur eine von vielen Anforderungen ist, unter denen es abzuwägen gilt, um „ein optimales, ‚gutes‘ Maß an Pluralität“ zu finden. Den Kritikern vom „Netzwerk Plurale Ökonomik“ hält Becker entgegen, dass sie die Rolle, die sie in diesem Prozess als Anwalt der Pluralität spielen könnten, „denkbar schlecht“ erfüllen. Er bemängelt, dass sie sich zunehmend nicht mehr nur als wissenschaftsverändernde, sondern auch als gesellschaftsverändernde Kraft verstehen und sich so Stück für Stück aus dem Dialog mit etablierten Ökonomen zurückzögen.
Für Sebastian Dullien von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin steht die Frage nach dem Warum von Pluralität in der Lehre unmittelbar im Zusammenhang mit der Frage danach, „… welche Lernziele bzw. welcher Kompetenzerwerb eigentlich mit dem Studium der Volkswirtschaftslehre erreicht werden soll.“ Falls es darum geht, Volkswirte so auszubilden, dass diese möglichst einfach einen Lehrstuhl an einer deutschen Universität bekommen können, dann sei das jetzige Maß an Pluralismus vermutlich tatsächlich ausreichend. Falls es jedoch darum gehen sollte, Studenten zur Analyse komplexer Probleme in real existierenden Institutionen zu befähigen, ihnen also „kritisches Denken in volkswirtschaftlichen Zusammenhängen“ beizubringen, dann müssen vermehrt alternative Paradigmen in die Lehre einfließen. Dullien fordert folglich: „Um also wirklich die Begrenzungen und Schwächen der Modelle zu verstehen, sollten die Studierenden möglichst alternative Theorien auch von deren Vertretern unterrichtet bekommen.“ Trotz dieser Kritik an der Lehre erkennt Dullien gewisse Fortschritte an: „Die VWL ist wesentlich offener und vielfältiger als sie es noch vor zehn Jahren war.“ Anders als die Verteidiger des Status quo behaupten, reichen diese Veränderungen aber bei weitem noch nicht aus, argumentiert Dullien und schließt, „… die deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten [haben] noch einiges zu tun haben, bis ein ausreichendes Maß an Pluralität erreicht ist.“
Als wohlwollenden Pluralismusskeptiker bezeichnet sich Rüdiger Bachmann, der an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Notre Dame in den USA lehrt. Für ihn ist das, was als akademischer Mainstream gilt, jedenfalls extrem vielschichtig, sodass er die pauschale Kritik, die Ökonomik sei ein „monolithisches und starr-statisches Gebilde“ ins Leere laufen sieht. Bachmann verteidigt den Mainstream außerdem gegen den häufig vorgebrachten Vorwurf, die Finanzkrise ab 2007 nicht prognostiziert zu haben: „Die wohlfeile Kritik […] ist Unsinn, denn der Mainstream begründet ja auch theoretisch, warum Finanzkrisen grundsätzlich nicht vorhersehbar sind.“ Der Beobachtung von Mainstream-Kritikern, dass Ökonomen als Gruppe wenig Methoden- und Paradigmenreflexion betreiben, stimmt Bachmann zu. Allerdings zieht er daraus einen anderen Schluss als die Kritiker: „Für mich ist das eine Stärke der Ökonomik, weil sie so eben auch zu Sachfragen kommt und damit an gesellschaftlicher Relevanz gewinnt.“ In Bezug auf den Zustand der Lehre lässt Bachmann Sympathie für deren Kritiker erkennen: „Ich persönlich denke mit Schrecken an meine Studienzeit zurück, als ich ISLM-Gleichgewichte mit Zahlen ausrechnen musste, statt die Ökonomik hinter dem Modell beigebracht zu bekommen.“ Er hält dennoch fest, „dass die jungen Ökonomen zuerst einen einheitlichen disziplinären Kern vermittelt bekommen“ müssen, wenn das Lehrangebot durch mehr Diversität und Fungibilität erweitert werden soll. Den Ruf nach einer besseren und vielfältigeren Lehre hält er aber für sehr berechtigt.
Es handelte sich „grundsätzlich“ um „ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft […] vieler kluger Menschen […], die Risiken für das System im Ganzen zu verstehen“, war die Antwort der British Academy auf die legendäre Frage der englischen Königin, wie es passieren konnte, dass niemand die Krise vorhergesehen hat. Silja Graupe, Professorin für Ökonomie und Philosophie an der Cusanus Hochschule, greift in ihrem Beitrag die nicht minder legendäre Antwort der Akademie auf und stellt ihrerseits die Frage, was diese Vorstellungskraft bestimmt und worin das Versagen der kollektiven Vorstellungskraft der Ökonomen begründet liegen mag. Zur Beantwortung dieser Frage bedient sie sich der Methoden und Erkenntnisse der Kognitionswissenschaft. Demnach wird ein Großteil des menschlichen Denkens und Handelns von weitestgehend unreflektierten Vorstellungen bestimmt, die durch gedankliche Deutungsrahmen, sogenannte Frames, strukturiert werden. Anhand einer Untersuchung ökonomischer Standardlehrbücher zeigt die Autorin unter anderem, wie es durch mathematische Abstraktion und sprachlich vermittelte abstrakte Konzeptionen zu bestimmten selektiven Framings kommt. „Je weniger Hintergrundsituationen durch die sprachliche Vermittlung abstrakter Konzepte aktiviert werden, desto eingeschränkter wird der Spielraum möglicher Interpretationen. […] Der interpretative Rahmen für die Deutung realer Phänomene droht drastisch reduziert zu werden, sodass es zu einem Verlust kognitiver Pluralität kommen kann,“ stellt Silja Graupe fest. Die Ausgangsfrage nach der kollektiven Vorstellungskraft der Ökonomen beantwortet sie folgendermaßen: „Sie [die Veränderungen des Denkens über Wirtschaft] können zu einer maßgeblichen Verarmung jenes kognitiven Bodens führen, auf dem Ökonomen und jene Menschen, die durch sie geschult werden, ihre ‚kollektive Vorstellungskraft‘ begründen, sodass auf ihm nur noch eine unreflektierte Monokultur des Denkens zu wachsen vermag. Ein zentraler Ort dies zu ändern ist die ökonomische Bildung.“
Arne Heise von der Universität Hamburg betrachtet die Frage nach der Pluralität in der ökonomischen Disziplin vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Beratung in Deutschland. Dabei zeigt schon „die Praxis der Beratungsarbeit des Sachverständigenrats für Wirtschaft, dass die Wirtschaftswissenschaft dazu neigt, mit einander im Wettstreit stehende wirtschaftspolitische Empfehlungen zu produzieren … .“ Dies ist nicht zuletzt dem Wesensmerkmal des Untersuchungsobjekts der Wirtschaftswissenschaft geschuldet, „ein offenes, niemals vollständig analysierbares System zu sein … .“ Umso mehr bemängelt der Autor den öffentlichen Umgang mit Minderheitsvoten in den Jahresgutachten: „Diese Praxis wird kritisiert, weil die Minderheitsvoten fast ausschließlich von jenen Ratsmitgliedern verfasst werden, die von den Gewerkschaften vorgeschlagen wurden. Damit wird insinuiert, dass die Minderheitsvoten nicht das Ergebnis von Theorievariation oder Paradigmenpluralismus sind, sondern eine die Neutralität verletzende Wert- oder Ideologiebehaftetheit widerspiegeln, die ‚Kokolores‘ oder ‚wirres Zeug‘ hervorbringt, welches mit viel Aufwand wieder zurechtgerückt werden müsse.“ Für Arne Heise steht fest, dass die Wirtschaftswissenschaft keine monistische Disziplin ist, die gesichertes Erklärungs- und Handlungswissen schafft, sondern als plurale Disziplin konstruiert und betrieben werden muss. Aus diesem Grund plädiert Heise für mehr Pluralismus: „Plurale Gesellschaften benötigen alternative politische, vor allem auch wirtschaftspolitische Angebote, die den unterschiedlichen materiellen Anforderungen und Präferenzen an gesellschaftliche Zielsetzungen entsprechen.“
Lesen Sie hier exklusiv vorab ausführlich das aktuelle Zeitgespräch zur Pluralismusdebatte in den Wirtschaftswissenschaften aus der Dezember-Ausgabe des Wirtschaftsdienst:
Wirtschaftswissenschaften: zu wenig Pluralität der Methoden und Forschungsrichtungen?, in: Wirtschaftsdienst 12/2017 (mit folgenden fünf Beitragen: „Das’richtige‘ Maß an Pluralität und das Problem des fehlenden Adressaten“ von Johannes Becker; „Lippenbekenntnisse sind nicht genug“ von Sebastian Dullien; „Zur aktuellen Pluralismusdebatte in der Ökonomik: Ansichten eines wohlwollenden Pluralismusskeptikers“ von Rüdiger Bachmann; „ ‚Wie konnte es passieren?‘ – ökonomische Bildung als Boden einer geistigen Monokultur“ von Silja Graupe; „Fünf Weise und nur eine Weisheit?“ von Arne Heise)