Vergangene Woche hat der Internationale Währungsfonds seine Wachstumsprognosen für den Euroraum nach oben revidiert. Beim realen BIP werden jetzt für die Jahre 2018 und 2019 Zuwachsraten von 2,2 und 2,0 Prozent erwartet; in Deutschland liegen sie noch ein bisschen darüber. Da sich die Stimmungsindikatoren und die Auftragseingänge außerordentlich positiv entwickeln, die Wirtschaft im Rest der Welt boomt und offenbar nirgendwo Engpässe bei den Kapazitäten bestehen, gibt es für den IWF keinen Grund, in den nächsten Jahren ein Nachlassen der Wachstumsdynamik, geschweige denn eine Rezession vorherzusagen.
Die EZB hat zwar seit diesem Monat ihre Wertpapierkäufe von 60 auf 30 Mrd. Euro vermindert, hat aber immer wieder signalisiert, dass sie die Leitzinsen von -0,4 Prozent beziehungsweise null Prozent auch über das Ende dieses Programms im September 2018 hinaus beibehalten und das Quantitative Easing notfalls fortsetzen wird, wenn die Inflation nicht nachhaltig in Richtung zwei Prozent anzieht – wonach es nicht aussieht. Die Kerninflationsrate liegt seit fünf Jahren wie festgemauert bei nur ein Prozent, was nahelegt, dass wir es mit einer gewissermaßen strukturellen Inflation in dieser Größenordnung zu tun haben. Angesichts der nach wie vor hohen Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, und insbesondere in den Ländern des Mittelmeerraums, kann und wird die europäische Geldpolitik sehr expansiv bleiben. Sie kompensiert damit die neutralen bis restriktiven Effekte, die immer noch von der Fiskalpolitik sowie seit einem Jahr von der Aufwertung des Euro ausgehen. Die Fed wird wegen der Dollarschwäche vielleicht stärker bremsen als geplant, die EZB dagegen kann sich Zeit lassen.
Bekanntlich haben Ökonomen ein Problem damit, konjunkturelle Wendepunkte vorherzusagen. Kaum jemand hatte rechtzeitig vor der schweren globalen Finanzkrise von 2007-2009 gewarnt oder die Schwachpunkte im System benannt – sie brach aus, während der IWF, die OECD oder auch die deutschen Wirtschaftsweisen noch von moderatem Wachstum ausgingen.
Wird es diesmal wieder so sein?
Ich will mich bei meiner Antwort auf die Situation Eurolands beschränken. Es gibt für die Marktteilnehmer drei ernst zu nehmende Risiken in der Währungsunion: dass die Wirtschaft außerhalb Europas nach dem langen (neunjährigen) Aufschwung in die Rezession schliddert und der Außenhandel der 19 Mitgliedsländer dann einbricht, dass es zweitens wegen der Blasen an den globalen und europäischen Aktien- und Rentenmärkten zu Crashs kommt, in deren Gefolge die Nachfrage durch forcierten Schuldenabbau stark zurückgeht, was eine Rezession auslösen würde, und dass drittens Italien ins Schleudern geraten könnte, weil es dort immer noch viel zu viele notleidende Kredite und eine zu hohe Staatsverschuldung gibt.
Ich halte die beiden ersten Risiken für wichtiger. Italien dagegen ist nach seiner jahrelangen Spar- und Reformpolitik aus dem Gröbsten raus und kann sich zudem auf die Solidarität der übrigen Euroländer verlassen: Italien wird nicht die nächste globale Finanzkrise auslösen.
Für den IWF stehen die financial vulnerabilities, die finanziellen Schwachstellen, ganz oben auf der Liste der Risiken für die Weltwirtschaft. Gleichzeitig geht der Fonds aber davon aus, dass sie nicht eintreten werden – warum nicht, wird nicht weiter erörtert –, so dass das globale BIP in diesem und nächsten Jahr real jeweils mit Raten von nicht weniger als 3,9 Prozent expandieren wird. So gut ging es der Welt seit den Nach-Rezessionsjahren 2010/2011 nicht mehr.
Aber die Kapitalmärkte sind erneut stark überbewertet. Während die Rentenkurse seit einigen Wochen korrigieren, nimmt die Euphorie bei den Aktien weiter zu, so dass in Europa und auch anderswo fast täglich neue Rekordmarken geknackt werden.
An den Bondmärkten ist die Korrektur noch lange nicht abgeschlossen. Eine „Normalisierung“ der Renditen würde beispielsweise für 10-jährige Bundesanleihen einen Anstieg von jetzt 0,62 Prozent auf etwa 3,5 bis vier Prozent bedeuten, dem Produkt aus dem Trendwachstum des realen BIP von 1,5 Prozent, der angestrebten Inflationsrate von 1,8 Prozent und einer Terminprämie von einem halben Prozentpunkt. Wenn die EZB innerhalb der nächsten zwei Jahre ihre expansive Politik aufgibt, ist für den Rentenmarkt insgesamt mit Kursverlusten von 20 bis 30 Prozent zu rechnen.
Bei Aktien ist die Rückschlagsgefahr noch größer. Zwar steigen überall die Gewinne sehr kräftig, was für Aktien spricht, die Bewertungskennziffern sind aber noch stärker in die Höhe gegangen und haben inzwischen stratosphärische Niveaus erreicht. Hier die aktuellen Kurs-Gewinnverhältnisse für einige wichtige Indices: S&P 500: 23,8, Nikkei 225: 20,0, DAX: 19,6, Schanghai: 18,1. Das Argument, heute sei alles anders als früher und die hohen Kurse daher gerechtfertigt, wird auch diesmal nicht ziehen. Nicht ob es zu Korrekturen von 40 Prozent oder mehr kommen wird, ist die Frage, sondern wann.
Je länger der Aktienboom anhält, desto größer wird der Rückschlag sein. Man kann nur hoffen, dass der Boom nicht zu sehr fremdfinanziert ist und der folgende Schuldenabbau nicht erneut in eine tiefe Rezession führt. Soweit das die Statistiken über die Verschuldung der privaten Sektoren hergeben, ist die Lage diesmal etwas besser als 2008, vor der letzten großen Finanzkrise. Es gibt aber zwei wichtige und gefährliche Ausnahmen: Frankreich und vor allem China. Vielleicht braucht man sich über die chinesische Schuldenexplosion keine so großen Sorgen zu machen: Der Bankensektor ist ebenso wie ein großer Teil der Industrie in staatlicher Hand, und das Land ist insgesamt gegenüber dem Rest der Welt der größte Nettogläubiger. Krisen gehen von Schuldnern aus, nicht von Gläubigern. Wunschdenken?
Und wie sieht es in Italien aus? Die folgenden Grafiken lassen nur einen Schluss zu: immer besser, wenn auch noch nicht richtig gut!
1. Seit 2010 ist aus einem gewaltigen Defizit in der Leistungsbilanz ein Überschuss von etwa 2,5 Prozent des BIP geworden, und das staatliche Haushaltsdefizit hat sich seit 2009 von mehr als fünf Prozent auf nur noch zwei Prozent des BIP vermindert, Folge der Sparpolitik, sinkender Löhne und des schwachen Euro. Das Land zahlt mittlerweile seine Schulden gegenüber dem Ausland zurück und der Staat nimmt nur wenig neue auf.
2. Gemessen als Anteil am BIP, gehen die staatlichen Zinszahlungen ständig zurück und stellen immer weniger ein Problem dar.
3. Trotzdem ist die Staatsverschuldung nach wie vor sehr hoch (Ende November waren es 2.275 Mrd. Euro). Da die italienische Notenbank infolge des Bondankaufsprogramms des Eurosystems inzwischen 361,3 Mrd. Euro an Anleihen des italienischen Staates hält (Stand: Ende November 2017), hat der Staatssektor insgesamt (zu dem die Notenbank gehört) netto entsprechend geringere Zinszahlungen gegenüber Dritten zu leisten. Das gilt im Übrigen auf ähnliche Weise für die anderen staatlichen Schuldner Eurolands. Pointiert gesagt: Die EZB entlastet die Steuerzahler.
4. Noch sind die Anleger keineswegs so euphorisch wie in den Jahren vor der Finanzkrise, als der Renditespread gegenüber Bundesanleihen fast verschwunden war. Das Sicherheitspolster beträgt bei den 10-jährigen heute 136 Basispunkte, und selbst bei den 2-jährigen sind es noch 22.
5. Selbst wenn das Renditeniveau an den Bondmärkten weiter kräftig steigen sollte, wird das den italienischen Staat nur sehr verzögert treffen – die mittlere Restlaufzeit der Schulden steigt seit 2014 wieder an und hat inzwischen rund 7,5 Jahre erreicht. Da sich bei den Leitzinsen der EZB in diesem Jahr nichts tun wird, glaube ich außerdem zunächst nicht an einen richtigen Ausverkauf an den Bondmärkten. Er wird kommen, aber noch nicht sofort.
6. Italien hat weiterhin gewaltige ungenutzte Kapazitätsreserven. Ein Indikator ist die Arbeitslosenquote von 11,0 Prozent, ein anderer das Niveau des realen BIP, das immer noch um rund sechs Prozent niedriger ist als Anfang 2008, vor dem Beginn der großen Finanzkrise. Mit anderen Worten, solange die Konjunktur im übrigen Euroraum und im Rest der Welt gut läuft, die Finanzpolitik etwas expansiver ausgerichtet wird (wie es die EU-Kommission erwartet) und die EZB die Leitzinsen real im negativen Bereich hält, kann die italienische Wirtschaft in diesem Jahr erneut um 1.5 Prozent zulegen, vielleicht auch um mehr. Dabei steigt das Preisniveau weiterhin langsamer als im Rest des Euroraums.
Ich will kein zu rosiges Bild der italienischen Situation zeichnen, habe aber den Eindruck, dass das Land über den Berg ist. Zwei Restrisiken bleiben: Trotz des starken Rückgangs im vergangenen Jahr liegen die notleidenden Kredite immer noch bei etwas mehr als 16 Prozent der Kredite an den nicht-finanziellen Unternehmenssektor. Zum Anderen darf der Euro nicht zu stark und zu rasch aufwerten. Mario Draghi dürfte das ähnlich sehen und sich daher mit einem Kurswechsel Zeit lassen.