Wie die Auftragseingänge so die Industrieproduktion – so das reale BIP! Obwohl das verarbeitende Gewerbe nur noch 23 Prozent zur Wertschöpfung beisteuert, nach 30 Prozent vor der Wiedervereinigung, und die Dienstleistungen entsprechend zugelegt haben, gilt diese Faustformel immer noch. Darauf hat gerade Klaus Borger von der volkswirtschaftlichen Abteilung der KfW hingewiesen (KfW Research Nr. 180, 10. Juli). Die Abläufe sind in diesem Konjunkturzyklus bisher so, wie sie eigentlich immer waren, und das bedeutet mit einiger Sicherheit, dass das reale BIP in mindestens zwei der kommenden Quartale gegenüber dem jeweiligen Vorquartal zurückgehen wird. Die Outputlücke vergrößert sich. Ich muss sagen, dass ich damit bis vor Kurzem nicht gerechnet hatte.
Im Mai lagen die realen Auftragseingänge um 10,1 Prozent unter dem Durchschnittswert des vierten Quartals 2017, dem bisherigen zyklischen Höhepunkt. Dabei gab es kaum einen Unterschied zwischen der inländischen und der ausländischen Nachfrage (-9,5 Prozent und -10,5 Prozent). Die Industrieproduktion ist gegenüber dem Spitzenwert des zweiten Quartals 2018 bisher „nur“ um 3,5 Prozent zurückgegangen. Es gibt daher keine Anzeichen, dass wir hier bereits in der Nähe eines unteren Wendepunkts sind. Die Aufträge sind ein Frühindikator für die Produktion.
Warum es auf einmal nach Rezession riecht, lässt sich nur schwer sagen. Warum haben Haushalte und Unternehmen beschlossen, weniger Geld auszugeben, obwohl das traditionelle Kontensparen so unattraktiv ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, obwohl sich die realen Schuldzinsen – zum Beispiel für Hypotheken – in der Nähe von Null befinden, und obwohl der Arbeitsmarkt brummt? Die Leute sind offenbar stark verunsichert, und zwar sowohl hierzulande als auch im übrigen Euroraum als auch im Rest der Welt. Liegt es an dem weiter eskalierenden Handelskrieg, den Donald Trump angezettelt hat, den Strukturbrüchen in der Autoindustrie, dem Brexit, der Gefahr, dass es zu einem Irankrieg kommt, oder zu einem Platzen der chinesischen Schuldenblase, oder einfach daran, dass der globale Konjunkturaufschwung, abgesehen von einer kleinen Delle, nun schon zehn Jahre alt ist und ihm mittlerweile die Luft ausgeht?
Niemand braucht darauf zu hoffen, dass die Dienstleistungen und der Bau die Schwäche der Industrie kompensieren werden. Dafür sind die gegenseitigen Abhängigkeiten zu groß.
Es könnte aber sein, dass es zu einer Rezession kommt und niemand redet darüber: Die EU-Kommission hat gestern ihre (Sommer-)Prognose vorgelegt. Sie erwartet, dass das reale BIP des Euroraums 2019 im Durchschnitt um 1,2 Prozent höher sein wird als 2018, in Deutschland immerhin noch um 0,5 Prozent. Im vergangenen zweiten Quartal soll es im Vorquartalsvergleich zu einem Rückgang von 0,1 Prozent gekommen sein, danach aber soll es mit positiven Zuwachsraten von 0,2 Prozent weitergehen. Einen „richtigen“ Rückgang, mit negativen Vorzeichen für das Jahr insgesamt statt nur für einzelne Quartale, erwartet sie also nicht. Es kommt darauf an, wie man den Begriff „Rezession“ definiert. Ich finde, wir befinden uns bereits in einer Rezession, die Kommission findet das nicht.
Auch dass die europäischen Aktienmärkte so fest sind, mit Zuwachsraten zwischen 10 und 20% seit Ende 2018, passt nicht ins Bild, dass wir uns in einer Rezession befinden. Wenn Kapazitäten freigesetzt werden, wie es bei sinkender Produktion stets der Fall ist, kommt es zu einem Rückgang der Gewinne. Dass sich die Anleger davon bisher nicht haben beeindrucken lassen, könnte damit zu tun haben, dass die Gewinn- und Dividendenrenditen von Aktien zwar zurückgehen, im Vergleich zu den Bondrenditen aber weiterhin ungewöhnlich hoch sind. Es gibt, Rezession hin oder her, seit einiger Zeit keine Alternative zu Aktien (und Immobilien), jedenfalls für Anleger, die auf verlässliche Kapitaleinkünfte angewiesen sind. Eine andere Frage ist, wie lange die jetzige Konstellation anhalten wird. Ich weiß von keiner Rezession, die am Ende nicht von einem deutlichen Rückgang der Aktienkurse begleitet war.
Das andere Phänomen, das die jetzige Konjunkturschwäche von ähnlichen Phasen in der Vergangenheit unterscheidet, ist der anhaltende Anstieg der Beschäftigung. Die Produktion sinkt, aber die Unternehmen stellen fleißig neue Leute ein. So richtig pessimistisch können sie also nicht sein. In Deutschland gab es zuletzt 1,0 Prozent mehr Jobs als ein Jahr zuvor; im Euroraum insgesamt waren es +1,3 Prozent, in den USA sogar +1,5 Prozent. Pro Arbeitsstunde ist das reale BIP Deutschlands seit drei Jahren nicht mehr gestiegen. In den USA wird, anders als hierzulande, seit einigen Jahren über eine säkulare Stagnation der Produktivität diskutiert, aber geht es allein nach den Zahlen, haben nur wir ein Problem – in Amerika lag der Durchschnittswert seit Anfang 2016 dagegen bei respektablen 1,4 Prozent. Irgendwie geht uns die Innovationskraft aus.
Noch eine Beobachtung zum Schluss: In der neuen Prognose der EU wird lang und breit dargelegt, was die EZB warum getan hat, wie das wirkt und dass sie weiterhin eine sehr expansive, am besten eine noch expansivere Politik als bisher verfolgen sollte, aber kaum ein Wort über die Rolle der staatlichen Finanzpolitik. Dabei haben die vergangenen Jahre gezeigt, dass niedrige Zinsen und die massive Injektion von Zentralbankgeld in den Bankensektor nicht viel bringen, wenn es an der Endnachfrage fehlt, aus welchen Gründen auch immer. In den USA wurden die Leitzinsen in den vergangenen dreieinhalb Jahren von nahe Null auf zur Zeit 2,4 Prozent erhöht, während das Volumen an Zentralbankgeld, dass durch die Wertpapierkäufe aufgebläht war, seit fast zwei Jahren allmählich zurückgefahren wird. Beides sind restriktive Maßnahmen.
Der amerikanischen Konjunktur hat das nicht geschadet. Vielleicht hat es ihr sogar genutzt, wie Harvards Robert Barro vor ein paar Tagen argumentiert hat. Aber für mich war der entscheidende Faktor für das in den vergangenen zwei Jahren auf durchschnittlich 2,9 Prozent beschleunigte Wachstum des realen BIP die expansive Finanzpolitik des neuen Präsidenten. Wir lernen daraus einmal mehr, dass der Staat die Wirtschaft durch Steuersenkungen und höhere Ausgaben wirksam stimulieren kann, ja muss, wenn der private Sektor seine Nachfrage einschränkt und auf Schuldenabbau setzt. Die EU-Kommission kann sich zu einer solcher Politikempfehlung für den Euroraum auch nicht im Ansatz durchringen. Offenbar ist es ein Tabu, über eine situationsgerechte Finanzpolitik zu diskutieren. Wir alle bezahlen das mit einem äußerst mickrigen Anstieg des BIP, der Produktivität und unseres Wohlstands.