Seit dem Aktiencrash vom vergangenen Frühjahr haben sich die wichtigsten Aktienmärkte mit Raten zwischen 30 und 50 Prozent erholt. Ich halte das für übertrieben und rechne mit einem erneuten Rückschlag. Die Anleger setzen offenbar darauf, dass es durch große Produktivitätsfortschritte und eine moderate Lohninflation im Verlauf der wirtschaftlichen Erholung zu einem deutlichen Anstieg der Gewinne kommen wird und es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Pandemie besiegt ist. Zudem glauben sie wohl, dass es keine gute Alternative zu Aktien gibt, da die Renditen der für sie interessanten Bonds sowohl nominal als insbesondere auch real bei Null liegen, oder sogar im negativen Bereich.
Es handelt sich aber um keinen typischen Konjunkturzyklus – er wird diesmal überlagert von einem tiefgreifenden Wandel der Struktur von Angebot und Nachfrage, erzwungen durch die ungewöhnlich hohen Gesundheitsrisiken und den erneuten, geradezu dramatischen Anstieg der Infektionszahlen. Es ist wahrscheinlich, dass es im Verlauf des Winters bei der Nachfrage und am Arbeitsmarkt noch einmal einen Rückschlag geben wird. Verbraucher und Unternehmer sind zunehmend verunsichert und halten sich daher mit ihren Ausgaben zurück. Von einem wirksamen Mittel gegen das Virus ist zudem bisher weit und breit nichts zu sehen.
Insgesamt ist die Kapazitätsauslastung der Wirtschaft weiterhin äußerst niedrig, so dass weder die Preise noch die Löhne nachhaltig steigen können. Vor allem in Europa besteht wieder ein Deflationsrisiko. Die EZB hält dagegen, indem sie die Märkte mit Zentralbankgeld flutet. Bei den Zinsen hat sie aber fast keinen Spielraum mehr und macht sich deshalb Gedanken über alternative und unkonventionelle Maßnahmen. Die wichtigste Rolle spielt daher, wie in jeder echten Krise, die Finanzpolitik. Staatliche Budgetdefizite und Schulden schießen geradezu raketenartig in die Höhe. Das ist auch in langfristiger Perspektive die angemessene Strategie, weil die zusätzliche Nachfrage den Kapitalstock und die Beschäftigung stabilisiert und auf diese Weise sicherstellt, dass die Grundlagen für künftiges Wachstum nicht verloren gehen. Wir hinterlassen unseren Kindern nicht nur Schulden, sondern auch eine Wirtschaft, die Arbeitsplätze und Wohlstand ermöglicht. Auf Jahre hinaus gibt es zudem keine Inflationsrisiken.
Ich argumentiere, dass die Zentralbanken ein Stück weit ihre Unabhängigkeit verloren haben. Sie unterstützen nicht nur die Fiskalpolitik, sie betreiben de facto selbst Fiskalpolitik. Aus Sicht der Anleger ist das nicht weiter beunruhigend. Die Bondrenditen sinken jedenfalls, ein Zeichen, dass sich niemand Sorgen um die Kaufkraft seiner Forderungen gegen den Staat zu machen scheint. Die Renditen sinken natürlich auch deswegen, weil zurzeit nur wenig in Sachaktiva und Forschung und Entwicklung investiert wird und es daher global zu einem Überangebot an Ersparnissen gekommen ist.
Eine ausführliche Analyse der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung im Hinblick auf die Aussichten und Risiken für Aktien und Anleihen finden Sie in meinem neusten Investment Outlook:
Wermuth’s Investment Outlook: Global recession and strong stock markets – it’s not sustainable, October 2020*) (pdf, 500KB)
*) Der Investment Outlook von Dieter Wermuth ist in englischer Sprache verfasst und wird im Herdentrieb in loser Folge zum Herunterladen bereitgestellt. (UR)