Wie entwickelt sich die Wirtschaft im kommenden Jahr? Verlangsamt sich das Wachstum nur vorübergehend oder gibt es eine Rezession und wird gar mit deflationären Tendenzen gerechnet? Schaut man auf die stets in die Zukunft gerichteten Finanzmärkte, zeigt sich zur Zeit alles andere als ein einheitlichen Bild. Zwischen den Akteuren am Aktienmarkt und denen am Rentenmarkt besteht nämlich eine enorme Diskrepanz in der Wahrnehmung der Konjunkturaussichten. Lucas Zeise von der FTD hat mich darauf aufmerksam gemacht. Während die Aktienmärkte Optimismus versprühen, zeigt sich der Rentenmarkt pessimistisch. Jede der beiden Sichtweisen hat ihren Charme und ist auch konsistent. Der Unterschied muss in den Annahmen stecken.
Ein Kollege, mit dem ich das Thema eben diskutiert habe, vermutet, dass die Aktienfans im Kopf generell anders strukturiert sind als die Rentenleute. Sie ziehen die spannenden Geschichten, die die Unternehmen schreiben, den drögen und analytisch nicht so leicht zu entschlüsselnden Vorgängen bei den Bonds vor. Das macht sie strukturell optimistisch, meistens jedenfalls. Dafür sind sie dann in der Baisse besonders deprimiert, allerdings immer nur kurzfristig. Sie sind wie die Anhänger von Schalke („Steh auf, wenn Du ein Schalker bist!“), während die Rentenleute eher wie Schachspieler sind. Für meinen Kollegen ist die Sache klar. Wenn Porsche den Panamera auf den Markt bringt, ist das eben eine andere Sache als wenn die EZB nach langer Diskussion und Abwägung aller Gründe die Zinsen doch nicht erhöht (oder senkt?) und die Renditekurve dadurch steiler wird.
Der Hauptunterschied zwischen den beiden Lagern besteht darin, dass die Akteure am Aktienmarkt glauben, dass sich die Wachstumsrate des Sozialprodukts nur wenig vermindern wird. Die Konjunkturschwäche jedenfalls schon sehr bald wieder von einem Aufschwung abgelöst werden dürfte. Warum? Weil die Zentralbanken und auch die Finanzpolitik kräftig und rechtzeitig und daher erfolgreich gegensteuern werden. Die Leute am Rentenmarkt dagegen befürchten eher, dass wir es mit einer systemischen Krise à la japonnaise zu tun haben, also mit großen Problemen bei den Banken sowie überschuldeten Haushalten. Eine „Bilanzrezession“, wie sie Richard Koo von Nomura einmal beschrieben hat, lässt sich nicht so einfach mit niedrigeren Zinsen und fiskalischen Maßnahmen des Staates aus der Welt schaffen.
Zum Szenario der Bondleute gehört natürlich das Risiko der Deflation – wegen der jahrelangen Nachfrageschwäche, die eine Folge der nötigen Bilanzreparaturen ist. Da muss die Verschuldung zurückgefahren und die Eigenkapitalbasis gestärkt werden. Man konzentriert sich dann auf besonders lukrative Geschäfte und scheut risikoreiche Investitionen. Daher sind die Renditen langlaufender Regierungsanleihen in den USA – ihrer Meinung nach folgerichtig – im Sinkflug. Wenn die aktuelle Inflation bei den Verbraucherpreisen 3,5 Prozent und die Kerninflation (also ohne Nahrungsmittel- und Energiepreise) 2,2 Prozent beträgt und sich die zehnjährigen Treasuries (US Staatsanleihen) mit 4,1 Prozent verzinsen, impliziert das, dass die Marktteilnehmer eine Kombination aus sinkender Inflation und sehr schwachem Wachstum, unter Umständen sogar eine Rezession erwarten. Auch wenn man korrekterweise nicht mit der aktuellen Inflation arbeitet, sondern mit der mittelfristig erwarteten von zur Zeit 2,9 Prozent, ändert sich das Bild nicht wesentlich.
In Europa ist das Rezessionsrisiko trotz des starken Euro für die Rentenmärkte offenbar nicht so groß wie in Amerika, es ist aber ebenfalls nicht gerade klein. Wenn die Renditen der zehnjährigen Bundesanleihen 4,2 Prozent betragen und die aktuelle Inflation bei 3 Prozent liegt, darf man vermuten, dass sowohl ein scharfer Rückgang der Inflation als auch des Wachstums erwartet wird. Allerdings sind die mittelfristigen Inflationserwartungen laut EZB nach wie vor bei 2 Prozent oder sogar leicht darunter, so dass das Wachstum sich nicht allzu sehr verlangsamen dürfte – denken die Rentenleute.
Die Aktionäre haben aber zur Zeit Oberwasser. Sie sorgen sich nicht darum, was sein könnte, sondern sagen, dass doch alles weiterhin prächtig läuft und die Wirtschaftspolitik noch eine Menge Munition in Reserve hat, wenn es denn wirklich mal ernst werden sollte. Wer redet da von Rezession?
Ein wichtiger Grund für den Optimismus ist die Dynamik der Schwellenländer, die nach Kaufkraftparitäten inzwischen knapp die Hälfte des Welt-BIP ausmachen und wegen ihres großen Nachholbedarfs, der hohen Investitionsquoten und ihrer finanziellen Stärke den Rest der Welt mit sich ziehen werden. Es hat sich allerdings gezeigt, dass ein Abkoppeln von der amerikanischen Konjunktur nicht wirklich möglich ist. Wenn es in den USA eine Rezession geben sollte, würde die Wachstumsrate des Welt-BIP auf Werte von 1 bis 2 Prozent sinken, verglichen mit dem aktuellen Wert von knapp 5 Prozent.
Richtig ist, dass es praktisch ausgeschlossen ist, dass es für die Welt insgesamt zu einer Rezession kommen kann, aber ein Gewinneinbruch ließe sich trotzdem nicht verhindern. Man sollt im Hinterkopf behalten, dass sich die KGVs, die Kurs-Gewinn-Verhältnisse, der Aktienmärkte in den OECD-Ländern auf ziemlich euphorischem Niveau befinden.
Die Gewinndynamik war in den vergangenen Jahren sowohl in den USA als auch in Deutschland sehr stark, wie die folgenden Graphiken zeigen.
Da der amerikanische Aufschwung schon älter ist und auch stärker war als der europäische, ist es mit der Gewinndynamik erst einmal vorbei – bei hoher Kapazitätsauslastung steigen die Löhne rascher, die Produktivität dagegen langsamer. In Europa scheinen die Reserven noch größer zu sein, und die Löhne nehmen angesichts der Arbeitslosenrate von 7,2 Prozent bei weitem nicht so flott zu. Die deutschen Auftragseingänge, die letzte Woche hereinkamen, zeigen ebenso wie die jüngsten französischen Zahlen zur Industrieproduktion, dass die europäische Konjunktur noch eine Menge Kraft hat und offenbar nicht so leicht durch den starken Euro erschüttert werden kann.
Aber ich halte den Optimismus hinsichtlich der amerikanischen Aktien für überzogen. Der schwache Dollar hilft, aber er treibt auch die Einfuhrkosten, die jetzt um nicht weniger als 10 Prozent über ihrem Vorjahresstand liegen. Zudem hat ein dermaßen schwacher Immobilienmarkt, wie wir ihn zur Zeit erleben, immer zu einem deutlich verlangsamten gesamtwirtschaftlichen Wachstum geführt. Der Preisverfall der Häuser dürfte die Verbraucher bis auf Weiteres stark verunsichern. Und dann gibt es noch den „credit crunch“ (die Kreditverknappung): Er bedeutet nichts anderes, als dass es viel schwerer geworden ist, sich Geld zu leihen und Ausgaben zu finanzieren. Keine guten Nachrichten für die Konjunktur! Auch keine guten Nachrichten für die amerikanischen Gewinne!
In den letzten Tagen haben sich die Tendenzen an den Rentenmärkten und den Aktienmärkten etwas angenähert: An den Rentenmärkten ist man hinsichtlich der Konjunktur etwas optimistischer geworden, so dass die Renditen kräftig gestiegen sind. Die Aktienmärkte sind dagegen noch euphorischer als sie es ohnehin schon waren. Ich vermute mal, dass sich dort vor allem in den USA gerade eine neue Blase bildet.