Die Beschlüsse des Gipfels in Brüssel sind so komplex, dass selbst Fachleute Probleme haben, sie zu analysieren. Eines aber scheint klar: Europa marschiert voran – nicht so schnell, wie es sich manche wünschen, aber schneller, als es vielen gerade in Deutschland lieb sein dürfte.
Griechenland erhält tatsächlich eine Art Schuldenerlass – aber in erster Linie verzichten die Staaten, also die Steuerzahler. Die Zinsen auf die Rettungskredite werden auf 3,5 Prozent gesenkt, die Laufzeiten drastisch auf bis zu 30 Jahre verlängert. Dadurch sinkt nach Berechnungen von Barclays Capital der Gegenwartswert der Forderungen der EU an Griechenland um 30 Prozent.
Die Schulden werden gestreckt, in der Hoffnung, dass sie dadurch am Ende doch noch zurückgezahlt werden können. Die Bundesregierung wird es anders nennen, aber es handelt sich um einen Transfer – zu solchen Konditionen hätte sich Griechenland niemals am Markt finanzieren können, und zwar auch nicht, wenn dort wieder Ruhe einkehrt.
Deutschland konnte durchsetzen, dass auch der Privatsektor bei der Stundung mitmacht. Eine Gruppe von Banken und Versicherungen – darunter die Allianz, die Deutsche Bank und die Commerzbank – hat sich verpflichtet, die Fristen der von ihnen gehaltenen Staatsanleihen zu verlängern. Dazu werden die Papiere im Bestand in 30-jährige Anleihen getauscht. Durch dieses Manöver verringert sich der Gegenwartswert der privaten Forderungen um rund 20 Prozent. Zumindest vorübergehend wird Griechenland damit als zahlungsfähig eingestuft werden.
Die Staats-und Regierungschefs der EU haben sich auf ein zweites Rettungspaket für Griechenland geeinigt. Ein teilweiser Zahlungsausfall Griechenlands ist kein Tabu mehr.
Das ist substanziell, aber weniger, als zurzeit am Markt erwartet wird. Banken, die ihre Anleihen bereits auf Marktwert abgeschrieben haben, dürften damit sogar einen Gewinn machen. Und für die neuen Instrumente, so zumindest muss man eine entsprechende Erklärung des Internationalen Bankenverbands verstehen, garantiert faktisch der europäische Rettungsfonds.
Damit haften die Steuerzahler gemeinsam für die Absicherung der Anleihen. Und eine Beteiligung an dem Programm ist freiwillig. Ob das ausreicht, um die Märkte zu beruhigen und das Überspringen der Krise auf andere Ländern zu verhindern, wird sich zeigen – in jedem Fall dürfte diese Gläubigerbeteiligung den Hardlinern in Deutschland nicht weit genug gehen. „Generous to bondholders“, schreiben die Experten von Nomura und in der Tat brauchen sich die Banken nicht zu beschweren.
Griechenland wird durch beide Maßnahmen insgesamt wohl für viele Jahre nicht mehr auf eine Kapitalaufnahme am Finanzmarkt angewiesen sein und sich in Ruhe der Sanierung seiner Wirtschaft widmen können – um dann die Schulden selbst abzutragen. Das bedeutet auch: Das Land wird möglicherweise für Dekaden von Brüssel überwacht werden. Das ist der Preis für den Verbleib in der Währungsunion.
Um die Ansteckungsgefahr für andere Länder zu verhindern, wird der Rettungsfonds mit neuen Kompetenzen ausgestattet. Er darf künftig am Anleihemarkt intervenieren und von einer Marktpanik bedrohten Ländern vorsorglich unter die Arme greifen – das sind wichtige Instrumente, mit denen der Staat sich der Herde in den Weg stellen kann, zum Beispiel, indem er Anleihen kauft, wenn alle anderen diese auf den Markt werfen.
Es ist sinnvoll, über solche Instrumente zu verfügen – und zum Teil sind sie der Preis für die deutsche Forderung nach der Bankenbeteiligung, die den Brand ausgelöst hat, der jetzt gelöscht werden muss. Es geht auch nicht um eine Finanzierung von Staatsschulden, sondern um die Sicherung von Liquidität. Die Neuerungen werden aber gerade hierzulande auf Kritik stoßen – zumal früher oder später das Volumen des Fonds vergrößert werden muss, wenn er glaubwürdig sein soll.
Europa hat auf dem gestrigen Gipfel weder Eurobonds noch eine Fiskalunion beschlossen, es bleibt eine Gemeinschaft von unabhängigen Staaten, die für ihre Haushalte selbst verantwortlich sind. Allerdings ist diese Konstellation nun bis an ihre Grenzen ausgereizt – wenn nicht darüber hinaus.
Man darf sich auf spannende Debatten einstellen, in der FDP und anderswo.