Am gestrigen Donnerstag hat die EZB die Zinsen um einen halben Punkt auf 3 ¼ Prozent gesenkt. Gut so. War es genug? Vermutlich sind viel niedrigere Zinsen angebracht, aber immerhin hat Herr Trichet in der Pressekonferenz zugegeben, dass auch ein größerer Schritt diskutiert wurde – ein kleinerer allerdings auch. Ich halte der EZB zugute, dass sich das monetäre Umfeld durch die starke nominale Abwertung des Euro seit dem 11. Juli bereits sehr verbessert hat und dass es insgesamt weniger wirtschaftlich bedrohliche Ungleichgewichte gibt als in den USA oder in Großbritannien, ein vorsichtigeres Vorgehen also gerechtfertigt werden kann.
Der Einbruch der Auftragseingänge bei der deutschen Industrie im September war allerdings ein Schock. Vermutlich ist es im Oktober, wenn man nach den Kommentaren aus den Unternehmen geht, noch schlimmer gekommen. Vor allem die Investitionsgüterindustrie hat plötzlich schwer zu kämpfen – wie das so ist, wenn die Konjunktur weltweit einbricht. Bei den Investitionen lässt sich kurzfristig immer am ehesten sparen. Ich vermute, dass sich ab nun auch die Situation am deutschen Arbeitsmarkt rapide verschlechtern wird; im Euroraum insgesamt steigt die Zahl der Arbeitslosen schon seit längerem, wenn auch nur leicht. Zwar ist inzwischen Konsens, dass Euroland in einer Rezession steckt, aber noch leugnet die EZB, dass es sich um eine wirklich ernste Krise handelt.
Dabei hat sie mehr Spielraum bei den Zinsen, als sie das vermutet. Trotz des schwachen Euro stagnieren die Verbraucherpreise seit Juni, also vier Monate in Folge. Dabei sind die positiven sommerlichen Effekte in der Saisonbereinigung bereits herausgerechnet. Auch wenn das nicht so weitergehen sollte und ich vielmehr unterstelle, dass sich der Preisindex von nun an mit monatlichen Raten von 0,1 Prozent erhöht, bekomme ich für das Ende des zweiten Quartals 2009 im Vorjahresvergleich eine Inflationsrate von etwa 1 Prozent, nach 4 Prozent im vergangenen Juni. Ein Prozent! Die Politiker haben diese Möglichkeit überhaupt nicht im Kalkül, scheint mir.
Herr Trichet wurde gestern nach der Möglichkeit einer Deflation im Euroraum gefragt. Das war offenbar eine despektierliche Frage – da müsste ja eine große Zahl nominaler Werte zurückgehen, war die Antwort. Darum aber geht es natürlich. Bei den Aktienkursen sind wir da schon längst angelangt, und bei den Immobilienpreisen wird es nicht mehr lange dauern, auch in Deutschland nicht. Ist übrigens irgendjemand aufgefallen, dass M1 saisonbereinigt seit Juni rückläufig und im Vorjahresvergleich bei null Prozent angelangt ist?
Es ist ziemlich sicher, dass die EZB die Zinsen weiter zurückfahren wird. Die stark rückläufigen Inflationsraten und die immer schwächere Konjunktur werden sie dazu zwingen, ebenso wie die erneute Aufwertung des Euro. Dollar und Yen dürften wieder zu Refinanzierungswährungen in Carry Trades werden, und das Pfund befindet sich wegen der Bankenkrise und des gewaltigen privaten Schuldenbergs, der angesichts der kollabierenden Assetpreise abgearbeitet werden muss, im freien Fall.
Geradezu lächerlich ist, wie die Berliner Wirtschaftspolitik bisher auf die Krise reagiert. Noch dominiert das Bestreben, finanziell möglichst billig davonzukommen, also auch kurzfristig höhere Defizite zu vermeiden. Es wird schon gut gehen! Dabei wird gleichzeitig Industriepolitik in einer Art getrieben, wie ich es nicht mehr für möglich gehalten hätte: Da einer von sechs Arbeitsplätzen in Deutschland von der Autoindustrie abhängt, müsse ihr dringend geholfen werden. Was ist eigentlich mit den fünf anderen Arbeitsplätzen? Ich hätte erwartet, dass Jens Weidmann, früher der Generalsekretär des Sachverständigenrats und jetzt Abteilungsleiter Wirtschaft im Kanzleramt, ein ordnungspolitisch besser durchdachtes Programm auf die Beine gestellt hätte. Er hat schließlich das Ohr der Kanzlerin und kann konzeptionell denken.
Auch in Brüssel wird leider so gedacht wie in Berlin. Dass am Anfang einer stärker koordinierten europäischen Finanzpolitik einmal eine massive Subvention der Autohersteller stehen würde, hätte ich mir im Traum nicht ausgemalt. Wohnen nicht in Brüssel die einzig wahren Wettbewerbshüter? Man kann vielleicht argumentieren, dass der Ernst der Lage bisher nicht erkannt wurde. In dem Maße, wie den Politikern klar wird, dass wir es nicht mit einer Situation zu tun haben, wo „hier ein bisschen, da ein bisschen“, ein „weiter so wie bisher!“ und „jeder für sich, Gott für uns alle“ ausreichen, könnten sie gezwungen sein, ein Konjunkturprogramm oder Wachstumsprogramm zu entwickeln, das seinen Namen verdient. Auch ich gebe mich, wie Sie sehen, gern mal dem Wunschdenken hin.
Der an den Märkten offenbar weitverbreitete Eindruck, dass in Brüssel und Berlin Konfusion herrschen und es an sinnvollen und mutigen Strategien fehlt, dürfte ein Hauptgrund dafür sein, dass der Euro zumindest vorübergehend eine Schwachwährung geworden ist. Er ist jedenfalls, anders als Dollar und Yen, keine Fluchtwährung, trotz positiver Fundamentalfaktoren (Zinsen, öffentliche Haushalte, Leistungsbilanz). Wo bleibt eigentlich Jean-Claude Juncker, der Chef der Euro Group, der finanzpolitische Koordinierungsstelle der Währungsunion? Könnte es sein, dass er voll damit beschäftigt ist, den Hedge Fund Luxemburg zu retten?