Deflation herrscht, wenn auf breiter Front die Preise sinken, und das nicht nur für ein paar Monate. Bei den Vermögenspreisen passiert das öfter, bei den Verbraucherpreisen dagegen nicht so häufig. Sinkende Verbraucherpreise, das hört sich aus Sicht der Konsumenten im ersten Moment nicht schlecht an. Wenn es sich nur um einzelne Preise handelt, ist es das auch nicht. Hat man es aber mit einer ausgemachten Deflation zu tun, dann befindet sich die Wirtschaft in einer gefährlichen Lage. Wenn die Leute beginnen, fallende Preise für normal zu halten, macht sich eine Deflationsmentalität breit. Es lohnt sich, Käufe aufzuschieben, weil morgen alles noch billiger ist. Ein sich selbst verstärkenden Prozess kommt in Gang, der zu einem Einbruch der Nachfrage und einem scharfen Anstieg der Arbeitslosigkeit führt. Der deflationäre Rückgang der Vermögenspreise und des Verbraucherpreisniveaus hängen eng zusammen, wobei der Verfall von Aktienkursen, Rohstoffpreisen und Immobilienpreisen in der Kausalitätskette typischerweise einen Vorlauf vor den Verbraucherpreisen hat.
Phasen ausgeprägte Deflation gab es in der Geschichte mehrere: von 1870 bis 1879 ging das Preisniveau in den USA beispielweise um 30 Prozent zurück, von 1929 bis 1933 waren es 24,4 Prozent. Auch in Deutschland brachen im Verlauf der Weltwirtschaftskrise die Verbraucherpreise ein; von 1929 bis 1933 um nicht weniger als 23,2 Prozent.
Die letzte große Deflation in einem Industrieland war die japanische – sie begann im dritten Quartal 1994 und ist bis heute nicht beendet. In dieser langen Zeit ging der BIP-Deflator Jahr für Jahr um etwa 1 Prozent zurück. Im abgelaufenen dritten Quartal lag der Deflator um –1,6 Prozent unter seinem Vorjahreswert. Nie hat die japanische Wirtschaft seit dem Ende der Aktien- und Immobilienblasen (1990 und 1992) wieder richtig Tritt gefasst – die mittelfristige Wachstumsrate des Produktionspotentials ist von etwa 4 Prozent (bis 1991) inzwischen auf 1½ Prozent gefallen. Deflation wirkt wie ein lähmender Schock auf die Wirtschaft.
Es gibt einige Anzeichen, dass uns eine neue Deflationsphase bevorsteht. Die Weltwirtschaft befindet sich nach einer Periode übermäßiger Verschuldung und überhöhter Asset-Preise mitten in einem Deleveraging-Prozess. Schuldenabbau ist das Gebot der Stunde. Leider gilt das auch für die Schwellenländer. Trotz ihres gewaltigen wirtschaftlichen Nachholbedarfs, ihrer hohen Währungsreserven und Sparquoten, erweisen sie sich als anfälliger als gedacht – offenbar hat es bei ihnen in einzelnen, dafür aber wichtigen Sektoren ebenfalls Verschuldungsexzesse gegeben, die Firmen und Haushalte angesichts des Verfalls der Vermögenspreise jetzt zwingen, mit aller Macht ihre Ausgaben zu reduzieren. Die Schwellenländer fallen daher in dieser Krise als Gegengewicht aus. Wie lange die Wachstumsschwäche anhalten wird, steht in den Sternen, sie wird aber ganz sicher der Tendenz nach deflationär wirken. Alle Prognostiker sind sich einig, dass die globale Rezession begonnen hat und im Jahr 2009 anhalten wird.
Hier ein paar Zahlen zur aktuellen Preisentwicklung: im Euroraum lag der harmonisierte saisonbereinigte Index der Verbraucherpreise im Oktober bei 108,55 und war somit seit Juni unverändert. Es darf als sicher gelten, dass der Index im November entweder stagnieren oder zurückgehen wird. Die Preise steigen also nicht mehr. In den USA sind die Verbraucherpreise von September auf Oktober um 1,0 Prozent gefallen. Seit Menschengedenken hat es nicht so einen gewaltigen Rückgang gegeben. Das war mit ein Grund, neben sehr schwachen Zahlen vom Arbeitsmarkt, warum Treasury-Renditen von nur 3 ½ Prozent (10 Jahre) auf die Anleger auf einmal attraktiv wirkten und eine Rallye auslösten. Die amerikanischen Einfuhrpreise gehen seit drei Monaten mit Raten von mehr als 4 Prozent zurück, so dass von dieser Seite her ein starker Abwärtsdruck auf das allgemeine Preisniveau bestand; der rapide Verfall der Rohstoffpreise ist inzwischen weitergegangen, so dass nicht mit einer Trendwende auf den nachgelagerten Stufen zu rechnen ist.
Am meisten Angst vor einer Deflation haben einige Notenbanker. Sie machen sich zunehmend mit dem Gedanken vertraut, dass das Preisniveau für eine Weile fallen kann und dass gegengehalten werden muss, damit es nicht zu einer echten Deflation kommt. Die Zentralbanken Japans, der USA, der Schweiz und Großbritanniens haben die Zinsen aggressiv gesenkt und wollen sie offenbar weiter in Richtung Null herunterfahren. Sie liegen bereits weit unter den am meisten beachteten Inflationsraten, nämlich den Zuwachsraten im Vorjahresvergleich.
Dass die Preise für eine Weile sinken können, nachdem sie vorher so stark gestiegen sind, ist natürlich normal. Die Kerninflationsraten hatten sich ja sowohl in den USA als auch im Euroraum während der vergangenen Jahre der Hochkonjunktur kaum erhöht. Wenn das Konzept der Kerninflation einen Sinn oder einen Aussagewert haben soll, müssen die Inflationsraten auch mal um genauso viel unter die Kernraten sinken, so wie sie vorher darüber hinausgeschossen sind. Das bedeutet, dass man sich nicht unbedingt Sorgen machen muss, wenn die Inflationsraten im nächsten Sommer für einige Monate ein Minus als Vorzeichen haben werden.
Man kann also noch keineswegs von einer ausgewachsenen Deflation sprechen. Noch steigen die nominalen und realen Löhne, noch kann etwa die EZB darauf verweisen, dass die Lohnstückkosten beunruhigend stark zunehmen. Wir nähern uns dennoch, auch im Euroland, mit Riesenschritten einem Deflationsszenarium. Auf vielen Feldern haben inzwischen Preiskriege begonnen, weil Unternehmen verzweifelt versuchen, ihre Kosten durch eine bessere Auslastung der Kapazitäten zu senken. Hier stehen wir gerade am Anfang.
Auch die EZB wird bald konzedieren müssen, dass wir es nicht mit einem normalen Konjunkturzyklus zu tun haben, sondern mit einem Prozess, der nach klassischem Muster in die Deflation führen kann. Deutlich niedrigere Zinsen sind zwar kein Allheilmittel, sie müssen aber Teil der Gesamtstrategie sein. Wenn sich die Deflation erst einmal eingenistet hat, lassen sich große realwirtschaftliche Verluste in Form steigender Arbeitslosigkeit und stagnierender oder fallender Realeinkommen nicht vermeiden. Sowohl in der Eurozone als auch in Deutschland muss energischer gegengesteuert werden. Inflation, das sieht selbst der unbedarfteste Hinterbänkler ein, ist kein Thema mehr, mit dem man den Leuten Angst einjagen kann. Aus der Vergangenheit winkt ein Gespenst, das heißt Deflation. Nichts, was auf die leichte Schulter genommen werden kann.