Sollte die EZB mehr tun, um den Preisverfall in der Euro-Zone zu stoppen? Das ist die Frage, die die Finanzwelt bewegt. Es gibt jede Menge Argumente, die für ein Stillhalten sprechen: Sondereffekte wie das gute Wetter haben dazu beigetragen, dass die Inflationsrate im März auf 0,5 Prozent gesunken ist. Ohne die volatilen Komponenten Nahrungsmittel, Energie und Tabak liegt die Rate immer noch bei 0,8 Prozent. Die Zinsen sind bereits niedrig. Unkonventionelle Maßnahmen wie negative Einlagezinsen oder Anleihekäufe habe jede Menge Nebenwirkungen. Die meisten Prognosen deuten darauf hin, dass dies der Tiefpunkt bei der Teuerung war. Die Konjunktur zieht an. Der Süden muss wettbewerbsfähiger werden und braucht deshalb niedrigere Inflationsraten. Und so weiter.
Jeder, der in den nationalen Notenbanken oder in der EZB Verantwortung trägt, sollte aber folgendes Gedankenexperiment machen: Wie würde er oder sie reagieren, wenn die Inflationsrate um den selben Betrag nach oben abweichen und heute bei 3,5 Prozent läge? Und wenn sie nach den eigenen Prognosen – in der Durchschnittsbetrachtung – auch in drei Jahren nicht wieder den Zielwert von knapp zwei Prozent erreichen würde?
Mein Tipp: Im Euro-Tower wäre längst Panik ausgebrochen und man würde die Zinsen wahrscheinlich schneller anheben als Draghi Piep sagen kann. Man kann sich immer herausreden, wenn man ein Ziel nicht erreicht. Aber das ändert nichts daran, dass ein Ziel nun einmal ein Ziel ist. Wenn der Süden eine niedrigere Inflation braucht, dann muss der Norden eben eine höhere haben. Das ist ja auch die Idee eines positiven Inflationsziels in einem Währungsraum: Die Anpassung relativer Preise zu erleichtern – zumal bei den konventionellen Maßnahmen das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist. Eine Zinssenkung wäre noch drin. Besonders putzig ist jetzt, dass die Gegner weitere Lockerungsmaßnahmen auf die Kerninflation verweisen. In der Regel sind es genau dieselben Leute, die die Kerninflation als unzulässige Größe zurückgewiesen haben, als die Inflation ölpreisbedingt hoch war. Dazu etwa die Bundesbank:
Kernraten liefern durchaus wertvolle Informationen über die Ursachen der Preisentwicklung, sind aber nicht der beste Maßstab zur Beurteilung der Preisniveaustabilität. Für eine stabilitätsorientierte Notenbank ist letztlich unerheblich, aus welchem Grund bzw. durch welche Preiserhöhungen das Ziel der Preisniveaustabilität gefährdet ist. Der durchschnittliche Verbraucher ist von allen Kaufkraftverlusten betroffen, egal, ob sie sich nun bei Gütern mit oder ohne starke Preisschwankungen ergeben; er lebt nicht in einer Welt, in der er weder Nahrung zu sich nimmt noch Transportmittel benutzt.
So lässt sich der Eindruck nicht beiseite wischen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Wenn die Inflation zu hoch ist, wird mit aller Kraft dagegen vorgegangen. Wenn sie zu niedrig ist, wartet man erst einmal ab und hofft, dass sich die Sache von selbst einrenkt. Wie gesagt: Man kann die Gründe für ein Stillhalten durchaus für legitim halten. Aber mich zumindest wird die EZB mit ihrem Verweis auf das Inflationsziel nicht mehr überzeugen, wenn sie bei steigenden Preisen wieder einmal die Zinsen anheben will. Denn auch dann wird es sehr viele gute Gründe geben, abzuwarten.