Die Bundesbank hat ihre halbjährliche Prognose vorgelegt. Danach wird sich der Anstieg der Verbraucherpreise, „gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) von 1,1% in diesem Jahr auf 1,5% im kommenden Jahr und dann weiter auf 1,9% im Jahr 2016 verstärken“, ohne die Preise für Energie bis 2016 sogar auf mehr als 2 Prozent. Warum steigt die Inflationsrate aus Sicht der Bundesbank? Es wird nur ein einziger Kostenfaktor genannt: höhere Lohnsteigerungen wegen Verknappungen am Arbeitsmarkt. Der feste Euro, die Deflationstendenzen in den peripheren Ländern des Euroraums oder unterausgelastete Kapazitäten werden nicht für erwähnenswert gehalten. Das hätte vermutlich nicht ins Bild steigender Inflationsraten gepasst.
Im Übrigen müssen sich die „Preiserhöher“ ganz schön anstrengen, damit sie für 2014 die vorhergesagten 1,1 Prozent hinkriegen. Im Mai lag die Inflationsrate in Deutschland bei 0,6 Prozent, und im Durchschnitt der ersten fünf Monate bei 0,96 Prozent. Auf den sogenannten vorgelagerten Stufen herrscht nämlich Deflation, im Großhandel (-1,3 Prozent ggVj), in der Industrie (-0,9 Prozent), bei den Ausfuhren (-0,8 Prozent) und den Einfuhren (-2,4 Prozent). Was die höheren Lohnsteigerungen angeht, auf die sich die Bundesbank beruft, übertrafen die Lohnstückkosten, also die um Produktivitätseffekte bereinigten Löhne, ihren Vorjahresstand im ersten Quartal gerade mal um 0,5 Prozent: Wenn die Wirtschaft im Aufschwung in freie Kapazitäten hineinwächst, nimmt die Produktivität der Arbeit oft rascher zu als die Löhne. Es ist durchaus normal, dass dann die Lohnstückkosten sogar sinken können – auch wenn die Stundenlöhne stärker steigen als zuvor. Der Faktor Arbeit dämpft in der konjunkturellen Frühphase meist den Preisauftrieb. In Deutschland liegt die Inflationsrate also heute und morgen trotz der robusten Konjunktur weit unterhalb dessen, was seit der Einführung des Euro als Preisstabilität gilt.
Für den Euroraum insgesamt hat die EZB vor wenigen Tagen die folgenden Inflationsprognosen vorgelegt: 0,7 Prozent für 2014, dann 1,1 Prozent und 1,4 Prozent im nächsten und übernächsten Jahre. Das bedeutet, dass die Geldpolitik aus heutiger Sicht extrem expansiv bleiben wird. In der Prognose vom März wurde für 2014 noch eine Inflationsrate von 1,0 Prozent für 2014 erwartet. Ebenso wie die Bundesbank überschätzt die EZB aus nachvollziehbaren Gründen gerne die künftige Inflation – sie möchte nicht von der Öffentlichkeit zu einer expansiveren Politik gezwungen werden als sie es für richtig hält.
Die Inflationsrate Eurolands betrug im Durchschnitt der ersten fünf Monate des Jahres gerade einmal 0,64 Prozent. Um auf die für das Gesamtjahr vorhergesagten 0,7 Prozent zu kommen, müsste der Durchschnitt von nun an bei etwa 0,8 Prozent liegen. Wie soll das gehen angesichts einer Mai-Inflationsrate von 0,5 Prozent? Bis Dezember müsste sie auf etwa 1,1 Prozent steigen. Selbst auf die kurze Sicht scheut sich die EZB meiner Ansicht nach nicht, die Inflationsraten zu überschätzen. Sie macht das vermutlich, um Zeit zu gewinnen – sie will sehen, was das Maßnahmenpaket vom 5. Juni bewirkt. Vermutlich wird aber auf Monate hinaus fast gar nichts in Richtung Inflationsbeschleunigung zu sehen sein. Eigentlich hätte sich der Stab der EZB die Fehlprognose auch sparen können. Ist Glaubwürdigkeit nicht auch ein Ziel seriöser Geldpolitik?
Wie steht es um die Inflationserwartungen, auf die die Notenbanker so viel Wert legen? Würden sie zurückgehen, stiegen die Realzinsen am langen Ende der Renditekurve, was einem unwillkommenen restriktiven Effekt gleichkommt. Bisher sind sie nur leicht gesunken, befinden sich aber noch in der Nachbarschaft von zwei Prozent. Anhand der vom Finanzinformationsdienst Bloomberg veröffentlichten Zahlen zu inflationsgeschützten Staatsanleihen sehe ich, dass für die Marktteilnehmer die erwartete durchschnittliche Inflationsrate in den nächsten fünf Jahren bei 0,81 Prozent (Deutschland) und 0,77 Prozent (Italien) liegt – für andere Länder gibt es in diesem Laufzeitenbereich keine solchen Anleihen –, also weit unterhalb des Zielwerts der EZB. Da die Inflationsraten für die kommenden zehn Jahre bei rund 1,3 Prozent erwartet werden, ergibt sich mit Hilfe einer einfachen Rechnung für die Jahre 6 bis 10 eine erwartete Inflationsrate von durchschnittlich etwa 1,8 Prozent. Alles in Ordnung also? Die EZB folgert unverdrossen, dass „die mittel- bis langfristigen Inflationserwartungen [fest verankert sind]“, und zwar da, wo sie sein sollen, nämlich bei knapp unter zwei Prozent. Das ist für mich Wunschdenken. Die industriellen Erzeugerpreise waren übrigens zuletzt 1,2 Prozent niedriger als vor Jahresfrist, die Lohnstückkosten lediglich um 0,4 Prozent höher. Zudem spricht auch die Kreditvergabe an Unternehmen (-3,0 Prozent ggVj) und Haushalte (-0,1 Prozent ggVj) nicht dafür, dass die Inflation demnächst anspringen könnte.
In ihrem Monatsbericht vom Mai (S. 44) gibt die EZB zu, dass sich die Indikatoren für die Schuldentragfähigkeit bislang nur leicht verbessert haben. Das Thema „deleveraging„, der Abbau der als zu hoch empfundenen Schulden, hat nach wie vor Priorität und kann daher keinesfalls abgehakt werden, auch nicht auf die mittlere Sicht, wenn es in dem bisherigen Tempo weitergeht. So lange an den Finanzmärkten keine „normalen“ Verhältnisse herrschen, kann die Notenbank die Pferden zur wohlgefüllten Tränke führen, dass sie auch saufen werden, darauf kann sie sich nicht verlassen.
Ich kann nur dringend davon abraten, zu viel von der Geldpolitik zu erwarten. Sie ist mit ihrem Latein am Ende. Gelddrucken allein wird die Finanzkrise nicht beenden. Die Besitzer von Aktien, Staatsanleihen und Immobilien können sich allerdings freuen – bis zum nächsten Crash.