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Marktteilnehmer wünschen expansivere Finanzpolitik

 

Niemand weiß, was Gott will, und niemand weiß, was die Märkte wollen. Paul Krugman hat kürzlich in der New York Times auf diese Analogie hingewiesen: Die Kreuzritter glaubten zu wissen, dass der liebe Gott von ihnen die Eroberung der heiligen Stätten des Morgenlandes verlange, während jemand wie Alan Greenspan glaubte, die Märkte hätten Angst vor galopierender Inflation und staatlichen Haushaltsdefiziten und würden daher von der Fed höhere Leitzinsen fordern. Umso erstaunter und geradezu genervt war er, dass weder die Inflationsraten noch die Marktzinsen das taten, was er von ihnen erwartete. Wenn politische Kreuzritter unserer Tage behaupten, sie wüssten, was die Märkte wollen, haben sie nach Krugmans Eindruck nur ihr eigenes Wollen im Sinn. In Wirklichkeit hätten sie, wie Alan Greenspan, ebenso wenig eine Ahnung vom Willen des Marktes, wie schon tausend Jahre vor ihnen die Kreuzritter von den Plänen Gottes.

Recht hat Krugman. Seit Langem wird gepredigt, dass die Schuldenmacherei des Staates und die Gelddruckerei der EZB und der Fed geradewegs in die Zahlungsunfähigkeit und die Hyperinflation führen – die Regeln des Maastrichter Vertrags basieren auf der Vorstellung, dass Budgetdefizite jenseits eng gezogener Grenzen von Übel seien. Nirgendwo lässt sich erkennen, dass an dieser These etwas dran ist. Wenn die Märkte heute eine Botschaft aussenden, dann eine ganz andere: Die Regierungen sollten von ihrer pro-zyklischen Finanzpolitik ablassen, und die Notenbanken könnten ruhig eine noch expansivere Geldpolitik betreiben. Sie signalisieren, dass sie Angst vor Deflation und Depression haben, nicht aber vor Hyperinflation oder staatlichen Konkursen – sonst würden sie von den Regierungen der meisten reichen Länder viel höhere Zinsen verlangen als die, mit denen sie sich zurzeit zufrieden geben.

Zunächst möchte ich klarstellen, dass steigende staatliche Defizite und Schulden nur manchmal zu steigenden Inflationsraten und langfristigen Zinsen führen, dann nämlich, wenn die Ressourcen der Volkswirtschaft stark beansprucht sind und es um sie einen Verdrängungswettbewerb gibt, der durch den Preismechanismus entschieden wird. Davon kann aber seit vielen Jahren weder in den USA und erst recht nicht in der Europäischen Währungsunion die Rede sein: die Erwerbsquoten sind ebenso wie die Raten der Kapazitätsauslastung nach wie vor sehr niedrig. Weder können die Arbeitnehmer ihre Löhne nachhaltig erhöhen, noch die Unternehmen ihre Preise. Wie soll sich da eine Lohn-Preisspirale entwickeln?

Grafik: USA - Staatsschulden und Inflation
Grafik: Euroraum - Staatsschulden und Inflation

Obwohl die Staatsschulden bis zuletzt ständig gestiegen sind, hat sich an dem Abwärtstrend der Inflationsraten nichts geändert. Die Budgetdefizite haben sich relativ zum BIP und absolut gerechnet seit der Rezession von 2008 / 2009 vermindert, bleiben aber insbesondere in den USA sehr groß – ohne dass sich das in irgendeiner Weise auf die Inflationsraten auswirkt. Schulden und Defizite sind irrelevant. Die Kausalkette hatte ihren Ausgangspunkt in der tiefen Rezession, die durch das Platzen der Immobilienblasen ausgelöst wurde, also in der rekordniedrigen Auslastung der Produktionsfaktoren, was wiederum der Inflation das Genick brach. Der Anstieg der Staatsschulden war gleichermaßen eine Folge der niedrigen Auslastung. Dass die Inflation sich auch heute noch nicht wieder in einem steigenden Trend befindet, hat ausschließlich damit zu tun, dass vorhandene Ressourcen brachliegen, Folge einer pro-zyklischen Finanzpolitik sowie des fortwährenden Schuldenabbaus und der Bilanzsanierung in den Sektoren, die nach dem Platzen der Immobilienblasen und der Märkte für Asset Backed Securities überschuldet waren.

Die Geldpolitik ist angesichts dieser Gegenkräfte überfordert. Vor allem Euroland braucht daher dringend einen neuen Policy Mix. Die Geldpolitik kann auf Jahre hinaus so expansiv bleiben wie sie ist, mit Leitzinsen in der Nähe von Null, jedenfalls solange die gesamtwirtschaftliche Output-Lücke nicht geschlossen werden kann – wonach es bisher nicht im Geringsten aussieht. In den USA liegt die Fed Funds Rate seit Ende 2008, also seit bald sechs Jahren, nur knapp über Null, ohne dass das die Inflationsrate im geringsten erhöht hätte.

In der Währungsunion ist der Auslastungsgrad in der Wirtschaft noch um Einiges niedriger als in den USA, was tendenziell für eine noch lockerere Geldpolitik spricht. Ein Anziehen der Zügel wäre nicht zuletzt deswegen kontraproduktiv, weil eine Aufwertung des Euro und damit ein Rückgang des Außenbeitrags verhindert werden sollten. Dass der Euro sich an den Devisenmärkten so gut hält, hat damit zu tun, dass die Währungsunion weiterhin in ihrer Leistungsbilanz gewaltige Überschüsse gegenüber dem Rest der Welt auftürmt; in diesem Jahr dürften es nicht weniger als 225 Milliarden Euro sein – etwas Vergleichbares hat es in einer großen Volkswirtschaft noch nie gegeben. Mittelfristig sind die Leistungsbilanzen die wichtigsten Determinanten der Wechselkurse.

Grafik: USA - Notenbankzinsen und Inflation
Grafik: Euroraum - Notenbankzinsen und Inflation

Ein schwacher Euro ist leider nur theoretisch ein wichtiges Element im neuen Policy Mix. Die EZB kann, anders als die japanischen oder chinesischen Währungsbehörden, nicht einfach in großem Stil Dollar kaufen, um den Kurs der eigenen Devisen nach unten zu treiben. Es käme zu einem Währungskrieg – bei dem Alle verlieren würden. Außerdem würde damit die Ambition aufgegeben, aus dem Euro eine dem Dollar ebenbürtige Reservewährung zu machen und durch sogenannte Seignorage-Effekte den Wohlstand zu steigern.

Nein, was vor allem geändert werden muss – und geändert werden kann –, ist die Finanzpolitik. Die niedrigen langfristigen Zinsen sind eine Aufforderung der Marktteilnehmer an den Staat, mehr Schulden zu machen und damit Investitionen zu finanzieren, die Arbeitsplätze schaffen und das Wachstum des Produktionspotenzials steigern. Nicht zuletzt wegen der demografischen Probleme, die auf uns zukommen, muss alles für eine raschere Zunahme von Beschäftigung und Produktivität getan werden. Deutschland hat natürlich die größten Spielräume. Wir sollten uns nicht davon irritieren lassen, dass solche Vorschläge bislang vor allem aus dem Ausland an die deutsche Regierung herangetragen werden, von Ländern, die selbst noch einen großen Reformbedarf haben und nur halbherzig ihre öffentlichen Finanzen in Ordnung bringen. Allein aus Eigeninteresse sind deutlich höhere staatliche Investitionsausgaben ratsam, wobei Beton nicht so wichtig sein sollte wie der Faktor Humankapital, sprich Kitas, Ausbildung und Forschung. Inflationsrisiken gibt es nicht, und selbst wenn die Rendite der 10-Jährigen steigen sollte, wäre das in der jetzigen Situation eher beruhigend als beängstigend.

Grafik: Euroraum - Öffentliche Haushaltsdefizite und die Rendite von Bundesanleihen

Im Übrigen könnte die Bundesregierung auf den folgenden Deal hinarbeiten: „Wir geben deutlich mehr Gas als bisher, dafür müsst Ihr mit den Reformen Eures Finanzwesens und Arbeitsmarkts voranmachen. Wenn Ihr dazu bereit seid, dürft Ihr auch eine expansivere Finanzpolitik verfolgen (die gewaltigen Output-Lücken sprechen dafür, dass es keine Inflationsprobleme geben wird). Deutschland setzt sich dann zudem für einen Einstieg in gemeinsame Eurobonds ein.“

Wie groß der Handlungsbedarf inzwischen ist, lässt sich nicht nur an der aktuellen europäischen Inflationsrate von 0,3 Prozent ablesen, sondern auch an den Inflationserwartungen. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Was sagen uns die Märkte in dieser Hinsicht? Gemessen an den Kursen der inflationsgeschützten Staatsanleihen werden für die nächsten zehn Jahre durchschnittliche Inflationsraten von 1,26 Prozent (Frankreich), 1,16 Prozent (Deutschland) und 1,12 Prozent (Italien) erwartet; für die nächsten fünf Jahre sind es sogar nur 0,74 Prozent (Italien) und 0,55 Prozent (Deutschland). Trotz der angeblichen staatlichen Schuldenprobleme lässt sich keine Spur von Inflationsangst ausmachen!

Aus der aktuellen Zinsstrukturkurve kann man zudem berechnen, welche Bondrenditen erwartet werden: Fünfjährige Bundesobligationen verzinsen sich danach in fünf Jahren mit 1,63 Prozent (heute: 0,17 Prozent) – das impliziert im Grunde eine künftige Inflationsrate in der Nähe von Null, oder eine anhaltende Stagnation des realen Sozialprodukts, sollte die EZB in der Zwischenzeit die Inflationsrate erfolgreich auf ihren Zielwert von knapp unter zwei Prozent anheben.

Am Markt geht die Angst vor Deflation oder dauerhafter Rezession um, oder vor Beidem. Wollen wir japanische Verhältnisse?