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Negative Nominalzinsen nicht ausschließen!

 

Die EZB hat signalisiert, dass sie bereit und willens ist, angesichts der desaströsen Wirtschaftslage und des Deflationsrisikos wenn nötig noch über das hinauszugehen, was gestern beschlossen wurde. Was wurde beschlossen? Der Hauptrefinanzierungssatz (der Refi-Satz) wurde auf 1%, der Zins auf die Spitzenrefinanzierungsfazilität auf 1,75% gesenkt; vom 23. Juni an werden längerfristige Refinanzierungsgeschäfte mit einer Laufzeit von zwölf Monaten angeboten, bei voller Zuteilung zum Festzinssatz in der Hauptrefinanzierungsfazilität (Ich liebe diese langen Wörter!). Zudem ist beabsichtigt, auf Euro lautende und im Euroland emittierte „covered bonds“ – also Pfandbriefe – im Volumen von zunächst 60 Mrd. Euro direkt anzukaufen und so die langfristige Refinanzierung der Banken zu stärken und das lange Ende der Zinskurve abzuflachen.

Da diese Käufe offenbar erst einmal „sterilisiert“, also von der Menge her in der Bilanz des Eurosystems neutralisiert werden sollen, impliziert das den entsprechenden Verkauf von Staatsanleihen. Deren Renditen sind daher gestern und heute kräftig in die Höhe geschossen. Im 10-Jahresbereich gibt es bei Bundesanleihen jetzt 3,46 % – bei den Pfandbriefen sind es trotz dieser Ankündigung allerdings immer noch 4,20 % (Schlussrendite gestern bei der DEKA). Vor der Krise war eine Renditedifferenz von nur 20 Basispunkten üblich. Die Anleger befürchten nach den Skandalen bei der Hypo Real Estate und den Landesbanken offenbar, dass Pfandbriefe doch nicht so sicher sind, wie sie das früher einmal angenommen hatten.

Die EZB schließt nicht aus, dass sie demnächst auch andere Wertpapiere ankaufen wird, also nicht nur covered bonds. Sie wird von allen Seiten gedrängt, ein „quantitative easing“ oder „credit easing“ nach US- oder britischem Vorbild zu betreiben. Das heißt de facto, dass sie unter Umgehung der Banken direkte Kredite an den privaten Sektor vergeben sollte. Jemand hat sogar vorgeschlagen, dass die Notenbank an alle Haushalte Kreditkarten verschicken sollte, wenn sich die Blockade des Finanzsektors nicht endlich auflöst. Das ist eine Variante des berühmten helicopter money – statt Sparkasse Mainz würde auf meiner Mastercard dann einfach Deutsche Bundesbank stehen. Vermutlich wären die Zinsen dann niedriger als heute. Ich hätte nichts dagegen. Meine Frau auch nicht.

Keine Frage, die EZB ist seit einiger Zeit voll auf Expansionskurs: Die Zinsen sind seit dem 15. Oktober 2008 von 4,25% auf jetzt 1% gesunken, und die Bilanzsumme des Eurosystems hat sich innerhalb der vergangenen zwei Jahre um stolze 55% oder 641 Mrd. Euro ausgeweitet, auf der Aktivseite vor allem wegen der Aufstockung der längerfristigen Refinanzierungsfazilität um 281 Mrd. Euro und der Aufstockung der auf Euro lautenden Wertpapiere um 202 Mrd. Euro.

Dennoch hat es bisher nicht viel gefruchtet: Die Kredite (der MFIs, also des Bankensektors des Euroraums) an den privaten Sektor lagen im März nur noch um 3,2% über ihrem Vorjahreswert; vor einem Jahr hatten sie noch mit zweistelligen Raten zugenommen. In absoluten Zahlen sind sie saisonbereinigt seit vergangenem November sogar leicht rückläufig. Auch an den kurzen Zinsen lässt sich ablesen, dass die Bankenkrise noch keineswegs überwunden ist: Bei einer Laufzeit von drei Monaten geben sich Anleger bei den sogenannten BuBills des Bundes mit einem Zins von 0,68% zufrieden, während es im Interbankenmarkt immer noch 1,32% sind – in normalen Zeiten gäbe es praktisch bei solch kurzen Fristen keine nennenswerten Unterschiede weil Banken als genauso sicher angesehen würden wie der Staat.

Vor allem fehlen bisher Anzeichen dafür, dass die Wirtschaft von Euroland auf die geldpolitische Medizin anspricht. Es gibt natürlich Lags zwischen dem Zeitpunkt des monetären Kurswechsels und den Auswirkungen auf Wachstum und Inflation, aber zumindest die sogenannte Geldbasis expandiert schon so lange so stark, dass eigentlich inzwischen positive Effekte erkennbar sein müssten. Sind sie aber nicht. Die Geldpolitik ist zur Zeit ein zahnloser Tiger: Seit Juli 2008 sinkt das Niveau der Verbraucherpreise (mit einer Verlaufsrate von 1,0%), und das reale BIP Eurolands dürfte im vergangenen Halbjahr (Q4 und Q1) mit einer annualisierten Rate von rund 8% gesunken sein!!! Die Arbeitslosigkeit steigt inzwischen steil an.

Ich war bisher leider, wie die meisten anderen auch, davon ausgegangen, was aber keine Entschuldigung sein soll, dass es so etwas wie eine Unterkante für die Notenbankzinsen gibt, nämlich dass sie nicht unter Null fallen könnten („zero lower bound“). Bei nur ein bisschen Nachdenken sieht man aber, dass das überhaupt nicht stimmt. Notenbanken können, wenn sie nur wollen, fast jeden beliebigen Negativzins durchsetzen. Darauf hat (wieder einmal, muss ich sagen) Willem Buiter vorgestern bei einem Vortrag in Frankfurt und gestern in seinem Maverecon-Blog hingewiesen. Mit anderen Worten, quantitative easing ist nicht das, was notgedrungen folgen muss, wenn die Wirtschaft weitere Stimuli braucht, die Zinsen aber bereits bei 0% angelangt sind.

Anders als beim Ankauf von Wertpapieren durch die EZB würde eine Politik negativer Notenbankzinsen nicht in die (allokativen) Marktprozesse eingreifen. Mit den Pfandbriefen wird das jetzt genauso kommen. Wollen wir das? Warum Pfandbriefe, oder Staatsanleihen, warum nicht Unternehmensanleihen und anderes, riskanteres?

Wenn es kein Bargeld geben würde, sind negative Notenbankzinsen technisch überhaupt kein Problem – die EZB zieht den Banken auf ihre Einlagen (die Einlagefazilität) einfach etwas ab, und wenn die Leute ihr Geld zur Sparkasse tragen, bekommen sie dann zwangsläufig ebenfalls weniger heraus als sie eingezahlt haben. Bei Deflation ist das nicht weiter schlimm, da ja die Kaufkraft des Geldes steigt. Ziel ist in einer solchen Situation ja, dass Geld für den Kauf von Gütern, Dienstleistungen und Vermögensgegenständen verwendet wird, dass also weniger gespart wird, dass die Outputlücke dadurch tendenziell geschlossen wird.

Das hätte auch den Effekt, dass die Refinanzierungskosten von Anleihen so gesenkt werden können, dass die Nachfrage nach ihnen kräftig zunimmt und ihre Rendite damit sinkt. Die gesamte Zinsstruktur könnte nach unten gezogen werden. Die Anleger würden in ihrer Verzweiflung auf Unternehmensanleihen und zunehmend lange Laufzeiten ausweichen, auch auf Aktien, so dass die Kapitalkosten sinken würden, was wiederum eine größere Anzahl von Investitionsprojekten attraktiv machen würde.

Und was ist mit dem Bargeld? Der Umlauf an Banknoten beläuft sich auf etwa 750 Mrd. Euro. Bares verzinst sich bekanntlich nicht. Wenn aber das Preisniveau rückläufig ist, erhöht sich seine Kaufkraft. Auf Bargeld gäbe es also einen positiven Realzins. Die Gläubiger würden daher ihre Schuldner drängen, die Rechnungen bar zu begleichen. Schwarzmarktgeschäfte wären noch lohnender als heute. Das ist nicht so toll. Die Notenbanken des Eurosystems müssten daher versuchen, so viele Geldscheine wie möglich einzusammeln (gegen Gutschrift auf Girokonten) und dürften keine neuen mehr ausgeben. Eine extremere Lösung besteht darin, für die großen Scheine, also die Hunderter und Zweihunderter ein Verfallsdatum zu verkünden, sagen wir zum 31. Dezember 2015. Das klingt krass, ist es in einer Deflation aus Gleichbehandlungsgründen aber nicht.

Ein Vorteil negativer Notenbankzinsen besteht auch darin, dass ein Kurswechsel, also ein Zinserhöhung, leicht vollzogen werden kann. Es gibt außerdem nicht das Problem, dass (anders als beim quantitative easing) Aktiva auf der Bilanz des Eurosystems landen könnten, die eventuell wegen Wertlosigkeit abgeschrieben werden müssen und damit Verluste verursachen. Wer übernimmt in der Währungsunion eigentlich solche Verluste? Es gibt schließlich keinen europäischen Finanzminister oder Fiskus. Wir haben es hier mit einem Konstruktionsfehler zu tun. Das kommt natürlich daher, dass in den glücklichen neunziger Jahren niemand von den Gründungsvätern des Euro einen Gedanken darauf verschwendet hatte, dass es eines Tages auch einmal eine lange Rezession cum Deflation geben könnte.

Das bestärkt mich übrigens in meiner Ansicht, die ich hier schon des öfteren vertreten habe – dass zu einer richtigen Währungsunion auf Dauer vielleicht nicht unbedingt eine gemeinsame, so doch zumindest eine stärker koordinierte Finanzpolitik als heute gehört. Nur dann kann sich der Euro zu einem international akzeptierten Wertaufbewahrungsmittel mausern, worüber sich nicht zuletzt die Steuerzahler freuen würden. Viel mehr Ausländer als heute würden nämlich bei der Finanzierung der europäischen Staatsschulden mitmachen. Warum ist der Euro trotz mehr oder weniger ausgeglichener Leistungsbilanz und relativ geringen staatlichen Defiziten gegenüber dem Dollar so schwach? Warum wertet er sich seit einiger Zeit nur dann auf, wenn international die Risikobereitschaft zunimmt? Komisch, dass der Euro als risk asset gilt! Es kann etwas mit der Frage zu tun haben, wer letztlich hinter dem Euro steht. Die EZB kann nicht konkurs gehen, aber in Notsituationen kann sie sich nur dadurch über Wasser halten, indem sie aggressiv Geld druckt und eine ausufernde Inflation zulässt, nicht dadurch dass der Staat für sie haftet – denn den gibt es für sie nicht.

Übrigens, darauf hatte Buiter auch hingewiesen, sind negative nominale Notenbankzinsen so ungewöhnlich nicht. Das deutsche Bardepot von 1972 (zur Abwehr spekulativer Kapitalzuflüsse) war bereits so etwas in der Art, und die Schweiz zahlt für ausländische Steuervermeider de facto seit langem negative Zinsen.

Das Thema verdient eine breitere Diskussion, jedenfalls bevor reflexartig das quantitative easing als nächster Schritt erwogen wird. Mir scheinen negative Eurozinsen in einer ernsten Deflationskrise die bessere Lösung. Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt, aber überlegen wir, was zu tun ist, wenn doch.