Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Der Markt, der will nicht so wie ich es will

 

In diesen Tagen sehe ich ziemlich dumm aus – andauernd rede ich von tiefer Rezession und nahender Deflation, und dass die Sache noch lange nicht ausgestanden ist, derweil an den Märkten schwungvoll ein ganz anderes Spiel abläuft. Dort wird gewettet, dass aufgrund der massiven wirtschaftspolitischen Stimuli und angesichts ausgebombter Aktienkurse, Rohstoffpreise und Immobilienpreise der Zeitpunkt für einen Einstieg da ist, genauer: sogar bereits hinter uns liegt. Rollt der Zug also schon und ist es höchste Zeit aufzuspringen?

Ein paar Zahlen dazu: seit seinem jüngsten Tief ist der DAX um 29% gestiegen (also seit dem 6. März), der S&P 500 um 34% (seit dem 9.März), der russische RTSI$ um 90,8% (seit dem 23. Januar), die Rendite 10-jähriger Bundesanleihen um 46 Basispunkte auf 3.35 % (seit dem 15. Januar), und der Ölpreis um 69% (Brent, 24. Dezember). Ich sage immer, dass wir es mit einer Bärenmarktrallye zu tun haben, worüber sich niemand zu wundern braucht, aber die traurige Wahrheit ist, dass ich nicht vorhergesehen habe, wie stark und dauerhaft die Hausse sein würde. Also doch mehr als ein dead cat bounce? Auch habe ich nicht erwartet, wie stark der Euro gegenüber dem Dollar an Wert verlieren würde (-15% seit Juli 2008).

S&P 500 - Stand: 12.05.2009DAX - Stand: 13.05.2009

Ich mag aber noch nicht aufgeben. Wie stehen die Chancen, dass die grünen Triebe – die green shoots – die Eisheiligen überstehen? Übermorgen, am 15. Mai, gibt es zum Ausklang die kalte Sophie. Das Wetter war bisher auf meiner Seite.

Unbestritten ist, dass die Geldpolitik global äußerst expansiv ist. Dafür gibt es verschiedene Indikatoren: So hat sich etwa die sogenannte Geldbasis, die direkt von den Notenbanken gesteuert werden kann, geradezu explosionsartig erhöht; zudem sind die Notenbankzinsen im vergangenen Jahr teilweise um mehr als 400 Basispunkte gefallen und liegen jetzt in allen wichtigen Volkswirtschaften in der Nähe von Null; da sich die langfristigen Zinsen nur wenig bewegt haben, allerdings wegen der staatlichen Defizite mit leicht steigender Tendenz, haben wir es inzwischen mit zunehmend steilen Zinsstrukturkurven zu tun, was für Konjunkturanalysten ein untrüglicher Frühindikator für eine Konjunkturerholung ist. Alle Notenbanken signalisieren weiterhin, dass sie ihre expansive Politik beibehalten werden, as long as it takes, wie sie in England sagen, also bis die Wirtschaft wieder anspringt. Die Verbraucher und Unternehmen können also darauf setzen, dass die Zinsen niedrig bleiben werden. Sparen lohnt sich nicht sehr, Schuldenmachen dagegen schon: Ist das nicht das, was ein Arzt in dieser Situation verschreiben würde? Dauerhaft niedrige Zinsen haben allerdings den unerwünschten Nebeneffekt, dass die potenziellen Schuldner und damit die potenziellen Investoren unter keinem Zeitdruck stehen, also ihre eigentlich dringend benötigten Ausgaben aufschieben können.

US und Euroland Notenbankzinsen

Die Optimisten verweisen außerdem auf die expansiven Effekte der Finanzpolitik. Sie hat in dieser Krise angeblich frühzeitig Gas gegeben. Meiner Ansicht nach werden die expansiven Impulse jedoch überschätzt. Was man wohl sagen kann, ist, dass die Politiker, anders als in den dreißiger Jahren, nicht versuchen, die anschwellenden Defizite mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen zu bekämpfen. Sie nehmen weitgehend hin, was ihnen die schlechte Konjunktur an Defiziten beschert. Dafür sollten wir dankbar sein. Allerdings gibt es in einigen Ländern neuerdings Widerstände gegen allzu stark ausufernde Defizite. Wenn sie zehn Prozent des Sozialprodukts übersteigen, macht sich in der Bevölkerung offenbar zunehmend Unbehagen bemerkbar – das gilt sowohl für die USA und Großbritannien als auch für Ungarn, Irland oder Lettland.

Ich muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass steigende Staatsdefizite nicht gleichzusetzen sind mit zunehmend expansiver Finanzpolitik. Sie sind in den meisten Fällen einfach Reflex der Rezession. Je tiefer diese ausfällt, desto mehr brechen die Einnahmen aus Steuern und Sozialbeiträgen weg, und desto stärker steigen die Ausgaben für die Arbeitslosen. Die Defizite nehmen sozusagen automatisch zu. Wenn ich also etwas über die tatsächliche Ausrichtung der Finanzpolitik sagen will, muss ich die Zahlen erst einmal um diese sogenannten automatischen Stabilisatoren bereinigen. Wenn ich das tue, erkenne ich sehr rasch, dass die amerikanische und britische Finanzpolitik deutlich expansiver ist als die kontinentaleuropäische oder japanische. In Zahlen: Das reale BIP der USA wird in diesem Jahr voraussichtlich um 3% unter seinem Vorjahreswert liegen, während das staatliche Budgetdefizit 13% des nominalen BIP erreichen dürfte; im Euroland wird das BIP stärker, nämlich um fast 4%, sinken, das Defizit wird aber weniger als 6% des BIP ausmachen. Von einer anti-zyklischen europäischen Finanzpolitik kann angesichts dieser Zahlen kaum die Rede sein. Das gilt übrigens in noch stärkerem Maße für Japan.

Insgesamt fährt die Wirtschaftspolitik, global gesehen, einen expansiven Kurs. Die positiven Wirkungen auf die wirtschaftliche Aktivität müssten sich nun allmählich zeigen – und das tun sie nach Ansicht der Marktteilnehmer, die zur Zeit das Geschehen bestimmen, immer deutlicher: Die Ergebnisse der Stimmungsumfragen bei Unternehmen und Haushalten, ob hierzulande oder in den USA, weisen seit Monaten nach oben, vor allem die Erwartungskomponenten; die Frühindikatoren, die die OECD berechnet, haben offenbar ihren Boden gefunden; das Interesse an Immobilien scheint sich zumindest in den USA und Großbritannien angesichts der niedrigen Preise und der günstigen Finanzierungsangebote zu beleben; und die Talfahrt der Produktion, die zeitweise eher einem freien Fall glich, scheint sich zu verlangsamen. Das Argument ist hier, dass es einfach nicht weiter mit dieser Rasanz in den Keller gehen kann – und deshalb auch nicht wird. Der Aufschwung zeigt sich gewissermaßen bereits in der zweiten Ableitung, um das mal mathematisch auszudrücken.

Das sieht mir sehr nach Wunschdenken aus, ebenso wie die Gewinnschätzungen, die für das nächste Jahr schon wieder – laut Konsens – einen satten Anstieg der Unternehmensgewinne vorhersehen. Ich erinnere daran, dass die Finanzkrise keineswegs ausgestanden ist. Das lässt sich etwa an dem Rückgang der Kreditvergabe an den privaten Sektor Eurolands ablesen, oder an dem Spread von 69 Basispunkten zwischen dreimonatigen Interbanksätzen und den BuBills des Bundes – er zeigt, dass das Risiko von Bankenkonkursen aus Marktsicht immer noch erheblich ist. Das gilt trotz aller Rettungsaktionen auch für die USA – dort liegt der vergleichbare Spread heute bei 71 Basispunkten. In Normalzeiten gibt es solche Spreads praktisch nicht.

Die Banken wanken und müssen, um wieder zu gesunden, ihr Geschäftsvolumen auf Jahre hinaus verringern. Niedrige Zinsen sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, dass das gelingt. In den USA sieht es, à la japonaise, danach aus, als hätte sich die Regierung für ein System von „Zombie-Banken“ entschieden: Die toxischen Assets dürften weiterhin mit zu hohen Ansätzen in den Bilanzen stehen. Dadurch werden diese Aktiva noch jahrelang mitgeschleppt und behindern einen Neuanfang bei der Kreditvergabe.

Zudem: Die Stimmungsindikatoren mögen sich zwar erholt haben, ihr Niveau ist aber weiterhin äußerst niedrig und lässt einen anhaltenden, wenn auch verlangsamten Rückgang des Sozialprodukts erwarten. À propos Sozialprodukt: Am 15. Mai, also am Tag der kalten Sophie, werden die Zahlen für das Sozialprodukt Deutschlands und der Eurozone veröffentlicht. Mein Mit-Blogger Uwe Richter geht nach den Märzzahlen für die Produktion und den Außenhandel inzwischen davon aus, dass der Rückgang des realen deutschen BIP im ersten Quartal (gegenüber dem vierten Quartal) zwischen 3 1/2% und 4% gelegen haben dürfte – das ergibt im Vorjahresvergleich -6,8%!!! Die Ergebnisse für das Euroland insgesamt werden nur marginal besser ausfallen.

Der Verfall der Immobilienpreise wird in den USA, in Großbritannien, in Spanien und vermutlich auch in Frankreich und Italien weitergehen. Überall drückt ein Überangebot, Relikt der Immobilienblasen, auf den Markt. In Amerika werden weiterhin mehr Häuser gebaut als verkauft. Da Immobilien stets mit Krediten finanziert werden, heißt das, dass die Schulden von immer mehr Unternehmen und Haushalten die Marktwerte der beliehenen Objekte übersteigen. Die Anzahl der Zwangsversteigerungen nimmt also eher zu als ab. Wie sich da die Konjunktur oder die Gewinne erholen sollen, ist mir ein Rätsel.

Anleger sind gut beraten, finde ich, wenn sie sich noch nicht von der Euphorie der Märkte anstecken lassen. Nobelpreisträger Paul Krugman, der, anders als die Banken, kein Interesse daran haben dürfte, die Konjunktur schön zu reden, hat gerade wieder darauf hingewiesen, dass eine V-förmige Erholung der Weltwirtschaft sehr unwahrscheinlich ist. Die jetzige Krise lässt sich mit konventioneller Konjunkturpolitik und halbherziger Sanierung des Finanzsektors so schnell nicht überwinden.