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Des Rätsels Lösung: der fallende Ölpreis

 

Als der Ölpreis Anfang August fast die Marke von 80 US Dollar erreichte, konnte es einem schon etwas mulmig werden. Das Risiko, dass die Weltwirtschaft am Ende doch noch auf der Ölspur ins Schleudern kommen würde, nahm mit jedem neuen Höchststand zu, obwohl – wenn man sich die Umfragen bei Verbrauchern und Unternehmern, oder auch die „harten“ Statistiken ansah – zu keinem Zeitpunkt Anzeichen von Panik zu erkennen waren.

Immerhin waren die Ölpreise Anfang 2002 noch bei 20 US Dollar, einem Niveau, um das herum sie im Jahrzehnt zuvor gependelt waren und an das sich sowohl Produzenten als auch Verbraucher von Öl begonnen hatten zu gewöhnen. Wäre es über das ganze Jahr bei einem Preis von knapp 80 US Dollar geblieben, wäre die jährliche Ölrechnung innerhalb von viereinhalb Jahren von etwa 560 Mrd. US Dollar auf 2.400 Mrd. US Dollar gestiegen, oder um einen Betrag, der rund 4 Prozent des heutigen Weltsozialprodukts entspricht.

Egal wie man rechnet, für die Verbraucher von Öl hätte das eigentlich einen schockartigen Verlust an Kaufkraft bedeutet, zumal die höheren Ölpreise ja auch die allgemeine Inflationsrate in die Höhe zu treiben begonnen hatten. Die Zentralbanken hatten darauf mit einer restriktiveren Geldpolitik reagiert, und die Renditen der Anleihen waren aus eben diesem Grund in der Schlussphase der Ölhausse kräftig gestiegen. Die Gefahr für die Konjunktur war mit Händen zu greifen. Erstaunlich war nur, dass sich das in den meisten Konjunkturprognosen nicht stärker niederschlug. Wäre ich OPEC, würde ich daraus den Schluss ziehen, dass hohe Ölpreise nicht sonderlich weh tun und die Produktion zurückgefahren werden kann, wann immer die Preise zu sinken drohen.

Der Einbruch der Notierungen um 25 Prozent innerhalb der letzten zwei Monate hat das Risiko eines Konjunktureinbruchs glücklicherweise deutlich vermindert. Ganz im Gegenteil, jetzt sieht es sogar danach aus, als ob die Prognose des Internationalen Währungsfonds, dass die Weltwirtschaft im nächsten Jahr real um 4,9 Prozent expandieren wird, gar nicht so ehrgeizig ist, wie es anfangs schien.

Reden wir also über die direkten und indirekten Effekte der niedrigeren Ölpreise auf die Wirtschaft und die Märkte. Am wenigsten überrascht, dass die Inflationsrate kräftig gesunken ist. Lag sie im August bei den deutschen Verbraucherpreisen im Vorjahresvergleich noch bei 1,8 Prozent, war sie einen Monat später auf 1,0 Prozent gefallen. Für Euroland insgesamt dürfte es einen Rückgang von 2,3 Prozent auf 1,9 oder 1,8 Prozent gegeben haben, womit die EZB ihr Ziel von „knapp unter 2 Prozent“ endlich wieder einmal erreicht haben dürfte. Sprit kostet jetzt nicht mehr 1,40 Euro, sondern nur noch 1,19 Euro.

Da die Ölpreise seit Mitte September, als die jüngsten Inflationszahlen erhoben wurden, weiter rückläufig sind, ist zu vermuten, dass diese zumindest kurzfristig noch etwas sinken werden. Es hilft, dass sich die Einfuhrpreise neuerdings im Rückwärtsgang befinden, ebenso wie vermutlich die Lohnstückkosten. Das sind die beiden für eine Volkswirtschaft wichtigsten Kostenkomponenten. Ob diese positiven Entwicklungen die jüngste Rallye am Rentenmarkt mit ausgelöst haben, ist nicht sicher, aber zu vermuten. Jedenfalls haben sich in den vergangenen Wochen auch die Inflationserwartungen verbessert.

Es scheint den Marktteilnehmern übrigens weitgehend gleichgültig zu sein, dass die kommende Anhebung der Mehrwertsteuer die deutsche Inflationsrate im Januar um etwa 1½ Prozentpunkte, die von Euroland immerhin auch noch um einen halben Punkt erhöhen wird, also die eine von etwa 0,8 Prozent auf 2,3 Prozent und die andere von 1,8 Prozent auf 2,3 Prozent. So unplausibel es auf den ersten Blick scheint, der neue Griff in die Tasche der Verbraucher verbessert die Inflationsaussichten. Warum? Er vermindert die Kaufkraft, schwächt die Konjunktur und trägt tendenziell zu einer Aufwertung des Euro bei, weil die EZB wegen der höheren Inflation die Zinsen eher weiter anheben als unverändert lassen dürfte. Wie es aussieht, dürfte sie im Augenblick angesichts der recht robusten Konjunktur in dieser Hinsicht keine größeren Bedenken haben.

Ein absehbarer Effekt der sinkenden Ölpreise und der steigenden Notenbankzinsen ist, dass sich die kurzfristigen und die langfristigen Zinsen immer mehr annähern. Je nachdem wie weit die Inflation noch zurückgeht, könnten die Geldmarktsätze demnächst sogar über den Renditen für Regierungsanleihen liegen, so wie das in den USA schon seit einigen Monaten der Fall ist. Das dämpft in der Regel die Kreditvergabe der Banken, weil die Fristentransformation nicht mehr funktioniert, also die Strategie, kurzfristige Einlagen zu niedrigen Zinsen aufzunehmen und die Gelder zu höheren Zinsen längerfristig zu verleihen. Eine traditionelle Haupteinnahme der Banken würde versiegen. Je ausgeprägter die sogenannte Inversion der Zinsstrukturkurve, desto negativer ist das für die Konjunktur. Aus diesem Grund ist in Amerika die Neigung der Kurve die wichtigste Komponente im Leading Indicator.

Bereits jetzt über die Inversion der Zinskurve zu spekulieren ist allerdings schon ziemlich weit vorgegriffen. Zunächst einmal werden die gesunkenen Ölpreise die Nachfrage stimulieren, sowohl in Europa als auch im Rest der Welt. Sie wirken wie ein massives Konjunkturprogramm. Die Verbraucher haben mehr Geld in der Tasche als sie gedacht hatten, und sie werden daher ihre Ausgaben steigern. Sie brauchen nicht mehr so viel von ihrem Einkommen an die Ölproduzenten abzugeben und sind daher wohlhabender geworden. Es ist so, als hätten sie ihre Löhne erhöhen können, ohne mehr arbeiten zu müssen. Gleichzeitig können sich auch die Unternehmer freuen, denn es gibt nicht nur mehr Nachfrage nach ihren Produkten, sondern es sinken auch ihre Inputpreise und damit die Kosten.

Es überrascht daher nicht, dass die Aktienkurse in den ölimportierenden Ländern im Aufwind sind. Im Economist vom vergangenen Freitag wunderte sich der Autor der Kolumne „Buttonwood“ darüber, dass in den letzten Wochen sowohl die Rentenkurse als auch die Aktienkurse gestiegen sind – das ginge ja wohl nicht. Entweder setzten die einen oder die anderen auf das falsche Pferd. Die einen glauben offenbar an eine kommende Rezession und kaufen Rentenpapiere, die anderen erwarten im Gegenteil einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung, steigende Gewinne und kaufen Aktien.

Das Rätsel ist in Wirklichkeit keines. Für einige Monate können die beiden Märkte ohne weiteres synchron laufen. Das verbindende Element ist die Einschätzung der Geldpolitik: Weil die Inflationserwartungen zurückgehen, nicht zuletzt wegen der Ölpreise, sind Bonds zur Zeit eine plausible Anlage. Andererseits ist auch zu erwarten, dass die EZB oder die Fed wegen der besseren (heutigen oder künftigen) Inflationszahlen tendenziell eine weniger restriktive oder sogar leicht expansive Politik verfolgen können, was der Konjunktur und damit den Unternehmensgewinnen hilft. Also sollte man Aktien kaufen! Bingo! Geht doch.

Sind irgendwelche Rückwirkungen auf die Wechselkurse zu erwarten? Soweit es um die Effekte geht, die über die Veränderung der Leistungsbilanzen auf die Nachfrage nach einer Währung laufen, dürften die Wechselkurse der ölimportierenden Länder tendenziell fester sein als vorher, und zwar umso mehr je größer die Abhängigkeit von Öleinfuhren. Da aber alle großen Wirtschaftsregionen in diese Kategorie gehören, einschließlich China und Indien, dürfte sich an den wichtigsten Devisenkursen nicht viel ändern. Vielleicht werden Rubel oder Norwegische Krone etwas weniger fest sein als vor einigen Monaten, es wird aber kaum ins Gewicht fallen.

Insgesamt überwiegen aus europäischer Sicht die positiven Aspekte: die sinkenden Inflationsraten, der verringerte Druck auf die EZB, die Zinsen über 3 ½ Prozent hinaus anzuheben, sowie die Stimulierung der Konjunktur durch den Gewinn an Kaufkraft.