Immer mehr sieht es danach aus, als ob die europäischen Zinsen für viele Jahre auf ihrem jetzigen niedrigen Niveau bleiben oder sogar noch weiter fallen werden. Der wichtigste Grund: Der Schuldenüberhang, der im Verlauf der Finanzkrise entstanden ist, konnte bisher kaum abgebaut werden, sodass die Nachfrage nach Krediten nicht in die Gänge kommt – für Haushalte, Unternehmen und den Staat hat die Sanierung der Bilanzen Vorrang. Billiges Geld wird angeboten wie sauer Bier, aber niemand will es. Und es sieht nicht danach aus, dass sich daran demnächst etwas ändern wird. In einem solchen Umfeld ist nur schwer vorstellbar, dass die Zinsen wieder steigen werden.
In diesem Jahr wird das reale Bruttosozialprodukt sowohl in Deutschland als auch in der Währungsunion mit einer Rate von etwa 1,5 Prozent expandieren und damit so rasch, oder so langsam, wie 2014. Nach der Minirezession der Jahre 2012 und 2013 wären deutlich höhere Zuwachsraten normal gewesen. Trotz ultra-lockerer Geldpolitik, schwachem Euro und einer bislang robusten Weltwirtschaft will es einfach nicht laufen. Warum? Wenn ich mir ansehe, wie sich die Schulden seit 2008 entwickelt haben, komme ich zu dem Schluss, dass wir es zwar nicht mehr mit einer sogenannten Bilanzrezession zu tun haben – das Sozialprodukt nimmt ja zu –, aber immer noch mit einer Situation, in der das Niveau der Schulden als zu hoch empfunden wird. Es wird daher zu viel gespart.
Das gilt nicht für Deutschland, was erklären würde, warum das Thema Schuldenüberhang hierzulande kein Thema ist und warum unsere Wirtschaft vergleichsweise widerstandsfähig ist. Es ist offenbar auch immer weniger ein Thema in Spanien, wo die Schulden zumindest im privaten Sektor absolut und relativ zum nominalen Sozialprodukt seit fast fünf Jahren zügig vermindert werden. Da der Schuldenstand im Euroland insgesamt aber unverändert hoch ist, muss es in den übrigen Ländern in dieser Hinsicht entsprechend schlecht aussehen.
Im Verlauf der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts waren die Schulden geradezu explodiert, vor allem als Folge sinkender Realzinsen nach der Einführung des Euro. In Spanien kam es zu einem gewaltigen kreditfinanzierten Immobilienboom, ebenso wie in Italien, Frankreich, den Niederlanden und einigen kleineren Ländern. Nach dem Rückgang der Immobilienpreise, der zumeist bereits 2007 begann, gerieten weite Teile der Bevölkerung und des Unternehmenssektors Eurolands finanziell unter Wasser – ihre Schulden waren höher als der gesunkene Marktwert ihrer Häuser und Wohnungen. Sparsamkeit war daher für sie das Gebot der Stunde. Das war gesamtwirtschaftlich gesehen kontraproduktiv, weil dadurch die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen deutlich geschwächt wurde. Das wiederum führte zu einem steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit und zu rückläufigen Inflationsraten und war damit genau das Gegenteil dessen, was Schuldner gebrauchen konnten. Bekanntlich lassen sich Schulden per saldo nicht beseitigen, wenn alle Welt nur sparen will.
Hinzu kamen die Probleme beim Staat. Durch die diversen Rettungsaktionen für Banken und systemisch wichtige andere Unternehmen erhöhten sich die Schulden der öffentlichen Hand weit über das hinaus, was bei der Gründung der Währungsunion vereinbart worden war. Bis zuletzt sind die aggregierten staatlichen Schulden Eurolands angestiegen und haben inzwischen 93 Prozent des BIP erreicht – 60 Prozent sollen es höchstens sein. Auch hier ist daher, vertragsbedingt, sparsames Wirtschaften angesagt. Wenn es nicht zu einem Sinneswandel kommt, werden vom Staat auf Jahre hinaus kräftige rezessive Impulse auf die Wirtschaft ausgehen. Wir haben es hier nicht mit einem Problem zu tun, das sich innerhalb weniger Jahre in den Griff bekommen lässt.
Euroland geht den Weg Japans, wo das Trendwachstum des realen BIP von rund vier Prozent vor der Finanzkrise von 1990 infolge der massiven Bilanzrezession und der andauernden Versuche von Haushalten und Unternehmen, ihre Bilanzen zu sanieren, auf etwa ein Prozent eingebrochen ist. Angesichts des hohen Schuldenniveaus wird die japanische Wirtschaft vermutlich noch jahrelang mit sehr niedrigen Wachstumsraten dahindümpeln und immer wieder in die Deflation rutschen. Keine guten Aussichten für uns!
In den großen Ländern außerhalb Eurolands wurde der starke Anstieg der staatlichen Verschuldung seit dem Jahr 2008 bisher nicht sonderlich ernst genommen. Es gab ja auch keine negativen Effekte auf die langfristigen Realzinsen oder den realen Wechselkurs, die ein Gegensteuern erfordert hätten. Ganz im Gegenteil, die Finanzierung der Budgetdefizite fiel sehr leicht – sie ging im Fall der USA und Großbritanniens jeweils sogar mit einem festen Wechselkurs und einem festen Bondmarkt einher.
Was den privaten Sektor in den USA, Japan und Großbritannien angeht, ist das Schuldenniveau gemessen am nominalen Sozialprodukt im historischen Vergleich immer noch sehr hoch, wenn auch niedriger als vor fünf oder sechs Jahren. Tendenziell wirkt das wie eine Ausgabenbremse. Jedenfalls dämpfen die hohen Schulden die Risikofreude potenzieller Schuldner in diesen Ländern, sodass die expansive Geldpolitik nicht richtig greift, jedenfalls hinsichtlich der Kreditvergabe und der Ausgabeneigung des privaten Sektors. Auch sie flirten zurzeit mit einem sinkenden Preisniveau, also mit Deflation.
Eine signifikante Ausnahme ist China. Dort nahmen die privaten Schulden bis zuletzt enorm zu und haben relativ zum Sozialprodukt fast dasselbe ominöse Niveau erreicht wie in Japan vor der wirtschaftlichen Zeitenwende im Jahr 1990. Das Tempo des Anstiegs ist sogar höher als damals in Japan. Ich halte diese Schuldenexplosion für das größte Risiko, dem die Weltwirtschaft im Augenblick ausgesetzt ist. Die Korrektur der überhitzten Märkte für Aktien, Rohstoffe und Immobilien ist inzwischen in Gang gekommen. Da sie bisher verglichen zu Japan in den frühen neunziger Jahren moderat ausgefallen ist, dürfte sie sich noch zwei oder drei Jahre lang fortsetzen. China exportiert so viel Deflation wie kein anderes Land.
Global gesehen bedeuten die anhaltenden Versuche von Haushalten, Unternehmen, Staaten und Banken – auf die ich hier nicht eingegangen bin –, ihre Bilanzen zu sanieren, also ihre Schuldenquoten zu vermindern und ihre Kreditwürdigkeit zu verbessern, dass die Kapazitätsauslastung niedrig bleiben wird. Das heißt nichts anderes, als dass es nicht leicht fällt, Preise und Löhne auf die gewohnte Weise zu erhöhen.
Fragt sich, wie sich der gordische Knoten auflösen lässt. Wie kommt die Welt aus ihrer Schuldenfalle, wenn Schuldenabbau überall, oder fast überall, Priorität hat? Die expansive Geldpolitik ist vermutlich ohne Alternative, einschließlich negativer Einlagenzinsen und massiver Expansion der Notenbankbilanzen. Wenn nichts davon anschlägt und sich die deflationären Tendenzen nicht ausrotten lassen, werden die Geldpolitiker wohl doch zu Helicopter Money greifen müssen, dem Verschenken von Geld an die Bürger, und zwar so lange bis eine allgemeine Inflationsrate von zwei Prozent wieder als normal empfunden wird. Lassen wir uns überraschen.