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Flüchtlinge nutzen mehr, als sie kosten

 

Ökonomisch war selten etwas so sinnvoll wie Angela Merkels „Wir schaffen das“ von Anfang September, während ihr peinlicher Bittgang zum türkischen Autokraten aus ökonomischer Sicht unnötig und sogar kontraproduktiv war. Unser alterndes Land braucht auf Jahrzehnte hinaus Zuwanderer, wenn es seinen Lebensstandard halten will, wenn nicht immer weniger Erwerbstätige eine immer größere Zahl von Alten versorgen sollen.

Ich halte die Flüchtlinge für ein unerwartetes und höchst willkommenes Geschenk. Ein paar arme Länder treten einen Teil ihres „Humankapitals“ an eines der reichsten Länder ab, ohne etwas für die „Investitionskosten“ zu verlangen, also die Kosten für die Erziehung und Ausbildung der meist jungen Menschen, die zu uns kommen. Wir sollten uns für dieses Geschenk erkenntlich zeigen, auch finanziell, wenn es die Umstände eines Tages zulassen.

Um es etwas abstrakt mit den Begriffen der Volkswirte auszudrücken: Der Gegenwartswert der künftigen Wertschöpfung (des Einkommens) eines Flüchtlings dürfte bei mindestens 750.000 Euro liegen, die Kosten der Integration und der Vorbereitung auf das Berufsleben in Deutschland aber höchstens bei 50.000 Euro. Wir zahlen 50.000 Euro für etwas, das einen Wert von 750.000 Euro hat.

Ich habe hier die folgenden Annahmen gemacht: 1. Nach zwei Jahren ist die Eingewöhnungsphase beendet, das Berufsleben beginnt. 2. Das Durchschnittseinkommen der Zuwanderer beträgt dauerhaft die Hälfte des Einkommens der heutigen Erwerbstätigen, also rund 26.000 Euro; das sind 50 Prozent des aktuellen Volkseinkommens je Erwerbstätigen. 3. Die verbleibende Lebensarbeitszeit der Zuwanderer beträgt 38 Jahre; sie gehen mit 70 in Rente. 4. Die Gesellschaft (der Staat) kann sich auf 40 Jahre zu 1,5 Prozent p.a. verschulden; dieser Zins ist der sogenannte Abzinsungsfaktor der künftigen Wertschöpfung. 5. Rund zwei Jahre lang fallen die Flüchtlinge der Gesellschaft finanziell zur Last, und zwar mit 25.000 Euro pro Kopf und Jahr; das sind gut 2.000 Euro im Monat pro Person.

Wie zu sehen ist, habe ich ihre Einkommen sehr niedrig angesetzt, die Kosten ihrer Eingliederung relativ hoch. Vermutlich kann man zudem davon ausgehen, dass die Einkommen nicht stagnieren, sondern im Zeitverlauf steigen werden. Es handelt sich daher um eine konservative Rechnung. In Wirklichkeit dürfte der ökonomische Nutzen deutlich größer sein als die 700.000 Euro, die bei mir unterm Strich herauskommen. Für den Staat einschließlich seiner Sozialversicherungen dürften bei einer (unterdurchschnittlichen) Abgabenquote von 40 Prozent abgezinste Einnahmen von 300.000 Euro je erwerbstätigen Neubürger anfallen.

Im Frühjahr hatte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie veröffentlicht, in der gezeigt wurde, dass es ohne eine beträchtliche Netto-Zuwanderung von außerhalb der Europäischen Union nicht möglich sein wird, die Anzahl der Erwerbspersonen bei rund 45 Millionen zu stabilisieren. Ganz ohne Zuwanderung wäre bis 2050 mit einem Rückgang auf 29 Millionen zu rechnen. Diese Gruppe müsste dann immer mehr Menschen unterhalten, die nicht arbeiten, Kinder, Jugendliche in der Ausbildung, Hausfrauen und Hausmänner, Arbeitslose, Arbeitsunfähige und Rentner. Das wird nicht leicht fallen. Es ist im allgemeinen Interesse, dass es nicht zu einem solchen Ungleichgewicht kommt.

Selbst wenn unterstellt wird, dass das übliche Rentenalter auf 70 Jahre steigt, dass sich die Erwerbsquote der Frauen der der Männer annähert und dass es zu Vollbeschäftigung kommt, wird es ohne beträchtliche Zuwanderung zu einem dramatischen Rückgang des sogenannten Arbeitspotenzials kommen. Übrigens betonen die Autoren der sehr lesenswerten Studie, dass wir nicht auf eine ausreichende Zuwanderung aus der EU setzen sollten. Bisher hatte sie das Geschehen dominiert. Auf Dauer werden die Geburtenraten in Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder Polen ähnlich niedrig sein wie hierzulande, weil sich die Einkommen und die gesellschaftlichen Modelle angleichen werden. Es wird bald keine EU-Reservearmee mehr geben.

Nein, es führt kein Weg an einer jährlichen Netto-Zuwanderung von außerhalb der EU in der Größenordnung von 500.000 vorbei. Das muss kein stetiger Zustrom sein – in manchen Jahren werden es deutlich mehr sein, wie 2015 und vermutlich 2016, in anderen deutlich weniger, je nach politischer Großwetterlage. Jedenfalls sollten wir die Flüchtlingsströme als Chance begreifen, die Politik der offenen Grenzen beibehalten und uns darauf einrichten, dass es gelegentlich zu einem richtigen Ansturm auf unser gelobtes Land kommen kann. Sind wir nicht trotz des Berliner Flughafens und der ständigen Verspätungen bei der Bahn immer noch die Weltmeister im Organisieren?

Was die aktuelle finanzielle Situation des Staates angeht, gibt es einigen Spielraum. Außer Norwegen weist kein Land der Welt, auch nicht die Schweiz, einen so großen Überschuss im Staatshaushalt aus. Er geht 2015 mit 15 bis 25 Mrd. Euro weit über das hinaus, was nach den Maastricht-Kriterien der Europäischen Währungsunion maximal möglich wäre (um rund 100 Mrd. Euro). Auch die Vorgaben der „Schuldenbremse“ lassen sich locker einhalten, wenn die Zusatzkosten für die Flüchtlinge nicht mehr als rund 30 Mrd. Euro betragen. Aber solche Summen werden gar nicht erforderlich sein, selbst wenn ich mit meiner Annahme, dass pro Monat und Kopf 2.000 Euro aufzubringen sind, noch zu niedrig liege.

Grafik: Einnahmen und Ausgaben des Staates, 1999-2014

Ich halte es für die Pflicht der Politiker, den Menschen klarzumachen, dass wir mit dem Flüchtlingsansturm keineswegs finanziell überfordert sind, dass wir es hier vielmehr mit einer einmaligen Chance zu tun haben, die wir uns nicht durch Kleinmut entgehen lassen sollten.