Hans-Werner Sinn hat seine Abschiedsvorlesung gehalten und eindeutig geht damit eine Ära zu Ende. Sinn hat die ökonomischen Debatten in Deutschland geprägt wie kaum ein anderer Wirtschaftswissenschaftler. Jetzt wird auch Bilanz gezogen und mein geschätzter Kollege Andreas Hoffmann hat beispielsweise im Stern eine sehr kritische veröffentlicht.
Ich selbst habe mit Hans-Werner Sinn zu tun, seit ich vor ziemlich genau 15 Jahren mit dem Journalismus begonnen habe. Wir haben uns damals bei der FTD kritisch mit der These von der Basarökonomie auseinandergesetzt und seither habe ich sein Wirken – zuletzt beim Thema Target – zumeist kritisch begleitet. Der kritische Umgang mit der Macht ist eine der Kernaufgaben des Journalismus und auch Ökonomen haben Macht. Seither sind wir mehrmals aneinander gerasselt und ich habe Stücke geschrieben, in denen er nicht gut weggekommen ist.
Ich bedauere es trotzdem sehr, dass Hans-Werner Sinn geht und zwar aus folgenden Gründen.
1. Er hat ein Gespür für Themen: Jedes Jahr werden Tausende von ökonomischen Fachaufsätzen veröffentlicht und die meisten davon sind für wirtschaftspolitische Debatten so interessant wie das Muster einer Raufasertapete. Hans-Werner Sinn dagegen hat in seinen Büchern und Aufsätzen die großen Themen seiner Zeit auf den Punkt gebracht – von der Wiedervereinigung bis zur Krise in der Währungsunion. Allein das ist schon eine Leistung, denn es wird viel zu viel über Unwichtiges diskutiert.
2. Er hat es drauf: Man kann Hans-Werner Sinn vieles vorwerfen, aber in der Regel hat er zu allen diesen Themen wichtige Punkte gemacht. Das gilt auch für die Target-Debatte, in der ich ihm bekanntlich Unsauberkeiten vorgeworfen habe und in der er – wie ich meine – überzogen hat, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu maximieren. Die Betrachtung der Target-Salden ist heute fester Bestandteil der meisten Analysen der Krise. Hans-Werner Sinn war zudem einer der ersten deutschen Ökonomen, der diese Krise nicht als Staatsschuldenkrise, sondern als Leistungsbilanzkrise verstanden hat – eine Sichtweise, die sich international weitgehend durchgesetzt hat.
3. Er ist Ökonom: Man hat Sinn oft vorgeworfen, er stehe für eine kalte ökonomische Sicht der Dinge, die die Menschen und die politischen Beschränkungen staatlichen Handelns außen vor lasse. Mein Gott: Der Mann ist Ökonom und nicht Bundeskanzler. Über die Grenzen des politischen Handelns unterhalte ich mich mit einem Politiker, von einem Fachmann erwarte ich eine sachorientierte Analyse. Wer aus Angst vor den politischen Konsequenzen bestimmte Problemlösungsansätze nicht einmal zu denken wagt, der schränkt sich unnötig ein. Wenn nicht einmal Ökonomen mehr ökonomisch vorgehen, wozu braucht man dann diese Wissenschaft überhaupt noch? Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft ist ein Wesensmerkmal der Moderne: Jeder hat seine Rolle zu spielen. Deshalb unterscheiden sich auch Leitartikel von Regierungsprogrammen. Und ob man nun seine Schlussfolgerungen teilt oder nicht: Was ihn motiviert, ist die res publica und nicht das Partikularinteresse.
4. Er denkt in Modellen: Hans-Werner Sinn ist ein wandelndes Lehrbuch. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass er jedes praktische Problem gedanklich sofort in seine Einzelteile zerlegt und dann im Rahmen der von ihm bevorzugten neoklassischen beziehungsweise neokeynesianischen Modellwelt einer Lösung zuführt. Nun kann man argumentieren, dass die Neoklassik ein großer Humbug ist und ich glaube auch nicht, dass dieser Ansatz der einzige Weg zur Erkenntnis ist. Aber ich glaube, man kann sich auch darauf verständigen, dass er eine ganze Reihe von ökonomischen Phänomenen gut erklärt, so wie ja auch die Newtonschen Gesetze für das Begreifen der sichtbaren Welt ganz hilfreich sind, obwohl die Realität natürlich komplizierter ist. Aber so ist das immer mit der Realität, trotzdem muss gehandelt werden. Der Homo oeconomicus, das zur Rationalität befähigte Individuum, ist bei aller berechtigter Kritik immer noch eine hilfreiche Fiktion – zumindest als Ausgangspunkt einer Analyse und zur Strukturierung von Gedanken. Verhaltensökonomische Ansätze mögen die Bedingungen menschlichen Handelns besser abbilden, kommen aber häufig über das Deskriptive nicht hinaus, weshalb sie in der Wirtschaftspolitik nur bedingt weiterhelfen. Und ich habe Hans-Werner Sinn immer als jemanden erlebt, der sich über die Prämissen der von ihm verwendeten Modelle durchaus im Klaren ist.
5. Er ist ein feiner Kerl: Das mag ein subjektiver Punkt sein aber er sollte nicht unerwähnt bleiben. Obwohl wir uns – auch hier im Blog – zum Teil schwer gefetzt haben, war Hans-Werner Sinn im persönlichen Umgang immer extrem freundlich und fair und diese Erfahrung haben auch viele meiner Kollegen gemacht. Ich kenne viele Ökonomen, die mir ideologisch näher stehen, aber deutlich weniger Respekt für ihre Gegner aufbringen als es Sinn tut. Das kann man nun wiederum als taktisches Verhalten interpretieren, aber vielleicht sagt es einfach etwas über den Menschen Hans-Werner Sinn aus.
Ich werde ihn jedenfalls vermissen und hoffe, er wird sich weiter an den großen Debatten beteiligen, die dieses Land führt.