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Wir sind wieder wer – aber wer? Deutschland zwischen Hegemonie und Selbstverzwergung

Für die aktuelle Ausgabe der ZEIT habe ich mit dem Kollegen Marc Brost eine Einschätzung der deutschen Außenpolitik geschrieben – zum morgen beginnenden G-8 Gipfel. Der Text steht auf der Seite 3 der Zeit von morgen:

Thomas de Maizière hat einen Nebenberuf. Er ist jetzt zweiter Chefdiplomat der Regierung. Seine erste Mission: Reparaturarbeiten im westlichen Bündnis. Der neue Verteidigungsminister lächelt verbissen, als er am Mittwoch der vergangenen Woche vor die Generalität von Heer, Luftwaffe und Marine tritt. Hier, in der Julius-Leber-Kaserne im Berliner Stadtteil Wedding, will er die Truppe für einen historischen Schnitt begeistern – den Umbau der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee. Aber de Maizière hat an diesem Tag noch mehr vor. Er will Signale nach draußen senden: an die Verbündeten.

Nein, liebe Freunde, wir melden uns nicht ab.
Nein, wir gleiten nicht klammheimlich ab, in Neutralismus und Isolation.
Der Neue spricht vom level of ambition seiner Truppe und davon, dass er die Zahl der einsatzbereiten Soldaten steigern wolle – um ein Drittel, auf 10 000 Mann. Dann gestattet er sich noch eine Unfreundlichkeit in Richtung des Kabinettskollegen Westerwelle. Man müsse künftig nicht nur jeden Einsatz begründen, sagt der Minister, sondern auch bedenken, »welche Folgen ein Nicht-Einsatz hat«.
Das Wort Libyen fällt nicht. Aber das Signal an die deutschen Verbündeten ist auch so klar: Wir wissen, dass euch unsere Enthaltung im UN-­Sicherheitsrat nicht eingeleuchtet hat. Wir sind zu verflochten mit der Welt, um uns noch einmal auf einen deutschen Sonderweg zu begeben. Wir hatten uns da nur kurzfristig etwas verlaufen.
Für Angela Merkel kommen diese Signale gerade rechtzeitig. An diesem Donnerstag und Freitag trifft die Kanzlerin auf die Mächtigen der G 8, der wichtigsten Industriestaaten. Und die Agenda dieses Wirtschaftsgipfels ist geprägt von den außenpolitischen Erschütterungen.

Im französischen Deauville wird über die Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten gesprochen werden – und über mögliche Hilfe des Westens. Seit der Libyen-Entscheidung steht Merkel unter Druck. Man konnte es merken, als sie sich etwas übereifrig über bin Ladens Tod freute – als hätte sie bei den amerikanischen Freunden, die sie eben noch ohne Not im Stich gelassen hatte, etwas gutzumachen. So paradox können die Folgen des Nicht-Einsatzes aussehen.
Man wird in Deauville aber auch über Japans Notlage reden, die Folgen der Atomkatastrophe, die Euro-Krise und Afghanistan. Viel hängt dabei von Deutschland ab – schon wegen der Schwäche der anderen. Japans Wirtschaft wurde durch Erdbeben, Tsunami und Super-Gau um Jahre zurückgeworfen. Amerika ist strukturell überschuldet und außenpolitisch überdehnt. Großbritannien unterliegt brutalen Sparzwängen. Frankreich und Italien kommen mit erratischen Chefs schlecht durch die Krise, und beider Länder politische Kulturen sind durch die Skandale um »Bunga Bunga« und Dominique Strauss-Kahn tief erschüttert. Sieht man von den Zaungästen Kanada und Russland ab, läuft alles auf die Deutschen zu, die als Einzige die Krise nahezu unbeschadet überstanden haben.
Merkel wird das zu spüren bekommen, im Kreis der anderen Regierungschefs. Selten war Deutschland so wichtig – und zugleich so isoliert wie heute. Die Regierung agiere »ausweichend, abwesend, und unvorhersehbar«, heißt es in einem Thesenpapier des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR). Die Gleichzeitigkeit von Euro-Krise und neuem deutschen Wirtschaftswunder macht Deutschland zu einer unverzichtbaren Nation. Aber ein Land, auf das es derart ankommt, wird auch anders angeschaut. Wir sind wieder wer – aber wer?

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De Maizières Bundeswehrreform und die deutschen Interessen

Der Bundesverteidigungsminister hat heute seine Ideen zur Bundeswehrreform vorgestellt. In den nächsten Wochen wird debattiert werden, ob die Reformdaten zu den Ambitionen passen. Was die strategischen Einlassungen angeht, sind bemerkenswerte Verschiebungen zu verzeichnen. Mir ist  in seiner Rede wie auch in den gleichzeitig veröffentlichten „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ etwas aufgefallen, das eine Wendung der sicherheitspolitischen Debatte anzeigt.

Im letzten Jahr haben wie einen Bundespräsidenten verloren, weil der sich wegen Äußerungen zu deutschen Sicherheitsinteressen unverhältnismäßiger Kritik ausgesetzt sah. Horst Köhler hatte dem Deutschlandradio auf dem Rückweg von Afghanistan folgendes gesagt:

„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“

Wegen dieser Äußerung brach ein Schwall der Kritik über Köhler herein: Kurz gesagt, er wolle schießen lassen, um die Interessen der deutschen Wirtschaft durchzusetzen. Köhler mag noch andere Gründe fürs Hinschmeißen gehabt haben, aber diese Kritik war der Auslöser.

Thomas de Maizière hat nun das deutsche Interesse an einem „freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen“ ganz offiziell und explizit in seinen Richtlinien festgehalten. In dem Weißbuch von 2006 heißt es noch, es sei im deutschen Intereresse, „den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern und dabei die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen überwinden zu helfen“.

Das ist eine deutliche Akzentverschiebung. In seiner erklärenden Rede in der Julius-Leber-Kaserne sagte de Maizière zu diesem Punkt:

„Unsere Interessen und unser Platz in der Welt werden wesentlich von unserer Rolle als Exportnation und Hochtechnologieland in der Mitte Europas bestimmt. Daraus folgt, wir haben ein nationales Interesse am Zugang zu Lande, zu Wasser und in der Luft.“

Das ist kurz und knapp genau das, was Köhler angedeutet hat. De Maizière in seiner besonnen, ruhigen Art, nimmt man ab, was einen Köhler den Kopf kostet. Vielleicht liegt es gerade daran, dass man ihn für einen seriösen, verantwortlichen Politiker hält, der keine Sprüche macht und sich nicht als Tabubrecher und Klarsprecher inszeniert wie sein Vorgänger im Amt. In jedem Fall finde ich das zu begrüßen.

Noch etwas. De Maizière sagt kein einziges Wort zu der Libyen-Entscheidung, aber die Richtlinien und seine Rede sind nach meinem Eindruck eine scharfe Kurskorrektur – oder sagen wir: der Versuch deutlich zu machen, dass Deutschland sich nicht dauerhaft auf den Kurs des Raushaltens um jeden Preis festlegt, für den der Außenminister steht. In der Rede heißt es:

„Deutschland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität zur Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente einzusetzen. Das beinhaltet auch den Einsatz von Streitkräften….

Militärische Einsätze ziehen weitreichende politische Folgen nach sich. In jedem Einzelfall ist eine klare Antwort auf die Frage notwendig, inwieweit die unmittelbaren oder sonst außenpolitischen Interessen Deutschlands den Einsatz erfordern und welche Folgen ein Nicht-Einsatz hat.

Deutschland wird in Zukunft von den Vereinten Nationen mehr als bisher um den Einsatz von Soldaten auch dann gebeten werden, wenn keine unmittelbaren Interessen Deutschlands erkennbar sind. Für andere demokratische Nationen ist so etwas längst als Teil internationaler Verantwortung selbstverständlich. Wohlstand erfordert Verantwortung. Das gilt auch für die deutsche Sicherheitspolitik.“

Erstens sind unsere außen- und sicherheitspolitischen Interessen weiter zu ziehen, als mancher sich gerne eingesteht (s. Köhler-Debatte vom letzten Jahr). Zweitens ist Deutschland auch dann gefordert als wichtiger Staat mit einem Interesse an einer Weiterentwicklung des Völkerrechts, wenn es nicht unmittelbar betroffen ist – wie etwa in Libyen.

Aber das habe jetzt ich gesagt.

 

Von Rosa Parks zu Najla Hariri

In manchen Gesellschaften kann es von Mut zeugen, aus dem Bus nicht auszusteigen. In anderen, in ein Auto einzusteigen und durch die Stadt zu fahren. Rosa Parks hat die Bürgerrechtsbewegung der USA inspiriert, weil sie sich als Schwarze in einem segregierten Bus im Süden der Vereinigten Staaten weigerte, ihren Platz einem weißen Fahrgast zu räumen. Parks wurde verhaftet, und die Empörung darüber wurde zu einem Funken der Bewegung.

Najla Hariri hat sich in Jeddah, Saudi-Arabien, ans Steuer eines Autos gesetzt und ist mit ihren Kindern durch die Stadt gefahren, mitten in der Rush Hour. Auf ihrem Twitter-Account hat sie darüber berichtet. Nun ist sie in einem Land, das Frauen immer noch das Fahren eines Autos verbietet, zur Heldin geworden. Wie bizarr das ist: Ausgerechnet das Land, das der ganzen Welt den Stoff liefert, der unbegrenzte Mobilität ermöglicht, knastet seine Frauen de facto ein, indem es ihnen das Selbstfahren eines Autos verbietet.

Hariri will gar keine Heldin sein, was die Sache erst recht zu einem Politikum macht. Najla Hariri hatte es einfach satt, ihr Leben von dem System der Geschlechter-Apartheid definieren zu lassen, das skandalöser Weise im Land der „zwei heiligen Moscheen“ immer noch herrscht:

You have made me a leader and an icon, when I am not any of that. I am just a mother who found herself in need to do something, so I did what I’ve done without looking for heroic acts or achievements.

So fangen Revolutionen an. Irgendjemand macht den Unfug nicht mehr mit, den sich die Herrschenden ausgedacht haben. Jemand hört auf, den Gessler-Hut zu grüßen. Es sind meist nicht die Intellektuellen oder die institutionalisierte Opposition, die so ausscheren. Viel stärker ist die Wirkung, wenn normale Menschen ohne ein oppositionelles Projekt einfach nicht mehr mitmachen.

Najla Hariri macht offenbar weiter. Die Website Arabia Today schreibt, sie habe schon vier mal ihre Kinder zur Schule gefahren und zitiert Hariri so:

Najla said: ”I’m not afraid of being stopped because I’m a role model for my daughter and for my friends. I will be remembered by my generation and I’m prepared to give driving lessons to those who want to drive.” Hariri who is married and in her thirties added: ”Saudi women should be allowed to drive, there is no law which prevents women from driving. ”

Hariri continued: ” Some say that Saudi women are like Queens because men offer her their services. This is a big lie, we are always under the mercy of men. “

Najla Hariri hat ihre Kinder zur Schule gefahren. Vielleicht wird man darin eines Tages den Anfang vom Ende des Wahhabismus sehen.

Rosa Parks (Wikimedia Commons) und Najla Hariri (von ihrem Twitter-Account)

 

Bin Laden, die Burka und die Pornos

Dass Osama bin Laden nach amerikanischen Berichten „große Mengen“ pornographischen Materials in seinem Schlafzimmer gehabt haben soll, kann niemanden überraschen, der die Geschlechterkämpfe in der arabischen Welt in den letzten Jahren mitverfolgt hat. Natürlich ist die Bigotterie augenfällig: der große Kulturkämpfer gegen den dekadenten Westen offenbar ein heimlicher Handwerker vor dem Herrn. Wundern würde es einen ja nicht mal mehr, wenn es amerikanische Pornos waren. Der Terrorpate, munter fiddelnd zu Pamela Anderson, während die Gerechtigkeit in Form der Navy Seals anklopft – das ist ja noch besser als die Dschihadi-Deppen aus „Four Lions“. Was wohl seine drei Frauen dazu sagen?

(Und selbst wenn er nicht selber der Konsument war, ist die Sache interessant: Sein Sohn oder die anwesenden Kuriere würden wohl auch von sich in Anspruch nehmen, dem Islam verpflichtet zu sein, für den der Chef steht.)

Aber dies ist nur die erste offensichtliche Pointe der Geschichte. Die inner-islamische Rückwirkung ist womöglich viel interessanter.

Seit vielen Jahren kommen die radikalen Islamisten (nicht nur die Dschihadis unter ihnen) immer weiter voran bei ihrem Kampf gegen die Selbstbestimmung der Frau. Das sichtbarste Zeichen dafür ist der Vormarsch der Nikabs in Ägypten, der Burkas in Afghanistan. Zugleich hat es eine Flut von gewaltsamen Übergriffen junger Männer auf Frauen gegeben. Nicht einmal mit Kopftuch und Nikab sind ägyptische Frauen an vielen Orten in Kairo vor extremen Formen der sexuellen Belästigung sicher.

Eine amerikanische Reporterin, Lara Logan von CBS, entkam während der Revolution knapp einer Massenvergewaltigung.

Diejenigen, die den Nikab und die Burka propagieren, sehen darin göttlich vorgeschriebene Mittel gegen die aufwühlende Wirkung der Frau in der (Männer-)Gesellschaft. Die Frau ist der Grund für den Kontrollverlust der Männer, darum muss sie aus der Öffentlichkeit verbannt werden – und wenn sie schon in der Öffentlichkeit auftritt, total verhüllt werden. Erst langsam kommt der innerislamische Kampf gegen diesen sexistischen Totalitarismus in Gang: Es gibt Gutachten der  Al-Azhar gegen den Nikab, der keine Vorschrift des Glaubens sei, sondern nur „ein Brauch“.

Das Opfer für die Tat zu beschuldigen, ist keine islamische Besonderheit. Erst vor wenigen Jahrzehnten haben wir im Westen Abschied genommen von dem Prinzip „blaming the victim“: Vergewaltigungsopfer konnte auch in unseren Gesellschaften lange keine Gerechtigkeit erwarten, es überwog der Verdacht, die Frau habe die Gewalt herausgefordert.

Der Wunsch, Pornographie anzuschauen, ist offensichtlich nicht nur ableitbar aus der Verhüllung der Frau in der Gesellschaft. Sonst wäre Pornographie

 

Fast nackte Topmodels in islamisch korrekter Schwimmkleidung!

An jedem Morgen begrüßt mich das Dashbord meines Blogs mit einem kleinen Gedicht, das sich aus der Auswertung der Suchanfragen ergibt, mit denen dieses Blog gefunden wurde. Da stehen dann „fast nackte Topmodels“ neben „islamisch korrekter Schwimmkleidung“, und „Clinton“ steht neben „Amerika kann nur Krieg“, wie etwa heute morgen.

Ich stelle einfach mal das aktuelle Bild als Screenshot ein:

 

It’s a man’s world: Ultraorthodoxe Zeitung läßt Hilary Clinton aus Foto verschwinden

Tagelang haben sich deutsche Medien über Hillary Clintons Gesichtsausdruck gebeugt: Hält sie sich aus Entsetzen über die Tötung bin Ladens die Hand vor den Mund? Ist sie von der Anspannung des Moments überwältigt? Schämt sie sich ihrer Angst?

Es geht auch einfacher: Die chassidische (ultraorthodoxe) Zeitung „Der Tzitung“ hat in ihrem Bericht über Bin Ladens Tötung die beiden Frauen kurzerhand aus dem offiziellen Foto des Weißen Hauses getilgt. Es fehlen in dem Aufmacherfoto die amerikanische Außenministerin (und die im Original sichtbare zweite Frau hinten in der Mitte).  Der Grund: Religiös begründete Sittlichkeitsvorstellungen, die zeitunglesenden Männern den Anblick von Frauen verbieten.

Großartig! Das nenne ich Fauxtographie!

(Quelle)

Das Originalfoto des Weißen Hauses

 

Warum der neue Irak sich über Osamas Tod freut

Gestern war der irakische Außenminister Hoschyar Zebari in Berlin. Ich hatte Gelegenheit, seinen Vortrag im Haus der DGAP zu hören. Zebari, ein Kurde, der seit Beginn des Umbruchs im Irak nach der US-Intervention 2003 als Außenminister dient, sprach über „Irak und den arabischen Frühling“.

Wenn er an den Irak von damals zurückdenke, dann war das ein Land unter Sanktionen, isoliert von der Weltgemeinschaft, verhasst bei den Nachbarn. Irak hatte das Völkerrecht mehrfach gebrochen, einen Angriffskrieg gegen Iran und einen gegen Kuwait geführt, es wurde von einer brutalen Dikatur regiert, und Kurden und Schiiten konnten nur dank der vom Westen durchgesetzten No-Fly-Zones im Norden und Süden überleben. Mehr als 80 Resolutionen des Sicherheitsrates waren gegen Irak ausgesprochen worden, ein historischer Rekord.

Heute, so Zebari, vertrete er ein Land, dass in die Arabische Liga zurückgekehrt sei, ebenso in die Organisation Islamischer Staaten. Irak sei nicht mehr der Feind seiner Nachbarn, alle Sanktionen seien aufgehoben worden. Mit dem Abzug der letzten US-Truppen stehe die volle Souveränität wieder zur Verfügung. Der nächste arabische Gipfel solle in Bagdad ausgerichtet werden – wahrscheinlich etwas später als geplant wegen des arabischen Frühlungs. Zebari verleugnete keineswegs die Probleme mit Korruption, schlechter Regierungsführung, mangelnder Infrastrukturentwicklung und dem Streit zwischen ethnischen und religiösen Gruppen. Aber Föderalismus sei als Staatsprinzip anerkannt und werde nicht mehr mit Sezession gleichgesetzt (das war früher immer der Vorwurf gegen die Kurden in ihrer autonomen Region gewesen).

Der arabische Frühling, so Zebari, sei aus irakischer Perspektive keine Überraschung, sondern eine Kulmination „vieler Jahre der Verleugnung“: „Wir standen 1991 gegen Saddam Hussein auf, und dieser Aufstand wurde brutal niedergeschlagen. In der Folge wurden Interventionen des Auslands die einzige Möglichkeit, das Land zu retten.“ Zum Glück sei  das in weiten Teilen der arabischen Welt heute anders. Aber eben nicht überall:

Die Krise in Libyen, so Zebari, habe bei ihm „unangenehme Erinnerungen“ geweckt. Ein Kurde hört „No-Fly-Zone“ und denkt dabei an eine lebensrettende Maßnahme. Die arabische Rebellion sei „eine echte und authentische Bewegung der Völker“, die sich ihr Schicksal nicht mehr diktieren lassen wollen. Sie sei weder von Israel noch von den USA inspiriert (eine Botschaft an Syrien und den Iran!).

Regierungen überall, sagte er mit Blick auf den Nachbar Syrien, müssten heute „zuhören“ und dürften keine Angst vor Dissens haben: „In Bagdad haben wir tägliche Demonstrationen, und sie werden nicht unterdrückt.“

Auch interessant war Zebaris Kommentar zum Tod von ObL: „Wir waren die erste Regierung, die die Tötung von Osama bin Laden begrüßt hat. Wir wissen, wie viele Menschen seine Anhänger in den Straßen von Bagdad, Kerbela und anderen unserer Städte ermordet haben und noch ermorden. Er war eine Verkörperung des Bösen.“

Das ist etwas, was in unserer deutschen Debatte kaum gesehen wird, was aber in multikonfessionellen islamischen Staaten wie Irak und Pakistan entscheidend ist: Der Angriff der Salafi-Dschihadisten auf den binnenislamischen Pluralismus, indem sie Schiiten und Sufis ermorden und den Hass zwischen den Gruppen schüren.

Die Ideologie des Hasses, die ObL in die Welt gesetzt hat, wird nicht so bald sterben, meint Zebari, aber für seine „bösartigen, sich wie ein Krebs ausbreitenden Ideen ist der Tod des Anführers ein schwerer Schlag.“

 

Pierre Vogel: Beten für bin Laden

Der deutsche Prediger Pierre Vogel möchte am Samstag in Frankfurt für Osama bin Laden beten. Das Thema wird sein: „Osama bin Laden wurde hingerichtet. War das wirklich Gerechtigkeit?“ Man muss sich die Einladung zu Gemüte führen. Es findet offenbar in der Salafistenszene eine scharfe Radikalisierung statt unter dem Eindruck der Tötung bin Ladens. Und Pierre Vogel möchte davon profitieren. Er gibt dem Affen Zucker.
Es gehe nicht um eine Verteidigung des 11. Septembers, sagt er eingangs, denn solche Taten seien „unislamisch“. (So wie auch die Tötung von „Zivilisten in Afghanistan“ durch Amerikaner vor Gericht gehöre, was ja nun auch geschehe.)
Bin Laden hätte die Chance verdient gehabt, zu den „Vorwürfen“, die ihm gemacht werden, Stellung zu nehmen. „Im Zweifel für den Angeklagten“, fordert Vogel: Das bedeutet hier, man müsse darüber reden, „welche Beweise es gebe, dass Osama bin Laden hinter dem 11. September stecke“.
In anderen Worten: Vogel nährt die Verschwörungstheorien über die ungeklärte Urheberschaft des Anschlags. Seine Distanzierung und Verurteilung der Anschläge hat er damit selbst als bloßes Lippenbekenntnis entlarvt.

Die Tötung bin Ladens, so viel steht offenbar schon fest, sei eine ganz grobe Ungerechtigkeit. Je größer die Ungerechtigkeit, desto eher die Revolution, sagt Vogel, dabei kurioser Weise Friedrich Engels zitierend.
Bin Laden habe doch „nur einen Terroranschlag gutgeheißen“ (und das Band mit seinem Bekenntnis war aber auffällig zusammengeschnitten) – also wie könne man diesen Menschen als schuldig betrachten?
Ihn mitten in der Nacht mit seiner Frau zu erschießen! Und Barak Obama und die anderen Mitglieder der Sicherheitsteams schauen sich das auch noch an – „pervers wie sie sind“ (Vogel). Dann geht es in dem zunehmend wirre Vortrag um die „2000 Vergewaltigungen pro Tag“ in Amerika – und „diese Leute nehmen sich heraus, den Weltpolizisten zu spielen“. In ihm hingegen „brenne die Wahrheit“, so Vogel, und die müsse raus. Dazu dient das Frankfurter Happening. Die Amerikaner, sagt er, hingegen haben die Neigung, solche Leute, in denen die Wahrheit brennt, zu eliminieren:
„Diese Leute (bin Laden und seine Entourage, JL) sind als Muslime gestorben, und sie haben verdient, dass man für sie betet.“

Das Band ist ein erstaunliches Dokument: Wenn Pierre Vogel den Sicherheitsbehörden Gründe liefern wollte, seinen Auftritt zu verbieten, dann war diese Ankündigung ein voller Erfolg.

 

Deutschsein kann man lernen

Meine wärmste Leseempfehlung für das neue Buch von Zafer Şenocak (aus der ZEIT von morgen):

Ein verblüffendes Buch. Poetisch, grübelnd und doch hochpolitisch. Deutschsein ist ein Beitrag zur leidigen »Integrationsdebatte« – erstaunlicherweise in der Form einer Liebeserklärung. Hier will einer wissen, warum »ein attraktives Land sich hässlich macht«.
Selten hat ein Autor in jüngerer Zeit so warmherzig über die Deutschen geschrieben wie der Dichter Zafer Şenocak, der mit acht Jahren aus Istanbul nach Oberbayern kam, in München aufwuchs und seit zwei Jahrzehnten Berliner ist. Er erzählt von seiner »Geborgenheit« als Kind in Bayern, von der Liebe zur Sprache Thomas Manns, Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. Er nennt es ein »Privileg«, in Deutschland zu leben.
Dies Buch handelt also von der Liebe des Einwanderers zu seinem Deutschland, die heute oft nicht erwidert wird. Şenocak bringt den Blick derjenigen zur Sprache, über die heute in unseren Debatten viel geredet wird: die Türken, die Muslime als das andere schlechthin. Er fragt sich besorgt, was mit den Deutschen los ist, zu deren Selbstverständigung diese Debatten ja dienen sollen. Es gibt nicht einen einzigen schiefen, selbstgerechten, vorwurfsvollen Ton in diesem Buch. Im gegenwärtigen Meinungsklima wirkt das befreiend.
Schon Urgroßvater Şenocak trug den Werther neben dem Koran im Tornister, als er fürs Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg zog. Und der Vater kam als frommer, doch moderner Türke, der von preußischen Tugenden besessen war, nach Deutschland. Die Mutter war eine begeisterte Lehrerin, die von Atatürks Reformen profitierte. Der Westen war kein Feindbild. Im Gegenteil, seine universalen Werte öffneten den Weg aus der Entmündigung durch die Tra­di­tion. Die Modernisierungsgeschichten dieser Menschen, die unser Land mit geprägt haben, kommen in Deutschlands Selbstbild bisher nicht vor. Ebenso wenig wie diejenigen, die heute unter den Bedingungen der Freiheit des Westens einen neuen Aufbruch in die islamische Spiritualität versuchen. Eine grobschlächtige »Islamkritik« stellt sie unter Verdacht. Wer aber Frauen im Namen der Religion unterdrücke, stelle sich nicht nur außerhalb westlicher Werte, sondern auch der türkischen Modernisierungsgeschichte, sagt Şenocak.
Die stärksten Passagen seines Buches handeln von den Schwierigkeiten der Einheimischen mit dem Deutschsein. Mit großem Einfühlungsvermögen schreibt er von der »speziellen Brüchigkeit und Verletzlichkeit der deutschen Identität«. Er vermutet, dass die Deutschen in letzter Zeit auch deshalb so viel vom Fremden und von seiner fremden Kultur und Religion reden, weil sie selbst nur in »gebrochenem Deutsch« übers Deutschsein reden könnten. Als Einwandererkind habe er erlebt, dass die Deutschen »auch heimatlos waren in diesen Aufbaujahren der Bundesrepublik«.
Ihre schöne Sprache sei mit Schuld beladen gewesen: die stärksten Wörter »außer Atem oder gar in Leichentüchern« – wie Heil, Blut, Volk. Heute trifft eine gehemmte Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit bei den Einheimischen auf die Modernisierungskrise der eingewanderten Muslime. Integration würde bedeuten, dass beide Seiten ihren Anteil an der Krise des deutschen Nationalgefühls er­kennen.
Was heißt es eigentlich, dass Deutschland Einwanderungsland geworden ist? »Es bedeutet, dass auch die Deutschen in ihr eigenes Land einwandern müssen.«

„Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“. edition Körber Stiftung, 190 Seiten, 16 €.