Thilo Sarrazin antwortet

Dr. Thilo Sarrazin schreibt mir in einem Leserbrief zu meiner Analyse des Streits um seine Äußerungen:

Martin Spiewak und Jörg Lau mögen bitte „Die fremde Braut“ von Necla Kelek, „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates und Arab Boy von Güner Balci lesen. Necla Kelek und Seyran Ates haben übrigens meinen Aussagen öffentlich zugestimmt.

Im übrigen hatte ich gar nicht das Gefühl, als ich das Interview gab, eine besondere Zivilcourage zu besitzen, insofern gebe ich Jörg Lau recht. Im Nachhinein bin ich allerdings über meine Naivität erstaunt.

Zum „Fall out“ des Interviews zählen: Der Versuch mich aus der Bundesbank zu drängen, ein Vergleich mit Hitler und Goebbels durch den Generalsekretär des Zentralrats der Juden, ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung, ein Parteiausschlussverfahren aus der SPD, Kübel voller Häme aus Teilen der liberalen Presse, bis die massive Leserbriefreaktion zu Besinnung führte. Das halte ich aus, weil ich ausreichend in mir selbst ruhe, materiell gesichert bin und keine weiteren Ämter anstrebe. Wer sonst hält das aus oder setzt sich dem freiwillig aus?

Nachdenklich sollte stimmen, dass ich offenbar ein weitverbreitetes Artikulationsbedürfnis angesprochen habe, das von den Medien und der Politik bisher nicht bedient wurde. Ich sehe hier durchaus einen Systemmangel. Kein Wunder, dass viele „demokratische Diskurse“ über die Köpfe der Beteiligten hinweg gehen.

Mit freundlichen Grüßen,

(Unterschrift)

 

Was man in Deutschland alles sagen darf

Ich habe für die morgige Ausgabe der ZEIT (Nr.44) eine Seite 3 zu den Weiterungen im Fall Sarrazin geschrieben:

Aus einem Interview in einer wenig bekannten Intellektuellenzeitschrift ist binnen dreier Wochen ein „Fall Sarrazin“ geworden. Der Streit über die Äusserungen des Bundesbankvorstands in „Lettre International“ mutiert zur Debatte über die deutsche Debattenkultur. Es wird mittlerweile genauso leidenschaftlich darüber gestritten, was man hierzulande um welchen Preis sagen darf – wie über die ursprüngliche Frage: ob Sarrazin denn Recht hat mit seinen Behauptungen über Einwanderer in Berlin.
Auch die Leser dieser Zeitung und ihrer Online-Ausgabe sind seit Wochen hoch engagiert in der Analyse des Vorgangs. Seit dem Streit um die dänischen Karikaturen hat es eine solche Welle der Empörung nicht mehr gegeben. In vielen Hundert Beiträgen schält sich ein Deutungsmuster heraus, das sich immer weiter vom Ursprung der Debatte löst. Es lautet etwa so: Einer sagt, was schief läuft im Land mit den „Türken und Arabern“ – und wird dafür bestraft. Man kann einem Mythos beim Entstehen zuschauen: Thilo Sarrazin, einsamer Kämpfer gegen Rede- und Denkverbote.
Zwei Männer haben maßgeblichen Anteil daran: Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der behauptete, dass „Sarrazin mit seinem Gedankengut Göring, Goebbels und Hitler große Ehre erweist“. Und Axel Weber, Vorstandschef der Bundesbank, der Sarrazin erst verschwiemelt den Rücktritt nahelegte und ihn dann hinter den Kulissen teilentmachtete – ohne je ein offenes Wort über die Aussagen seines Bank-Kollegen zu wagen, die den Anlass gegeben haben. Nun wird gar behauptet, die Pressestelle der Bundesbank hätte vorab Kenntnis von dem Interview gehabt und Weber hätte Sarrazin somit bewusst ins offene Messer laufen lassen. Wie dem auch sei –  Kramer und Weber lieferten Beispiele dafür, wie man die Diskussionskultur auf den Hund bringen kann: die fast schon bis zur Selbstkarikatur übertriebene Intervention des Zentralratssekretärs und das verdruckste Powerplay des Bankchefs haben mancherorts den Eindruck verfestigt, dass man in Deutschland über bestimmte Dinge nicht mehr reden kann, ohne erst in die rechte Ecke gedrängt und dann in den Senkel gestellt zu werden. Weiter„Was man in Deutschland alles sagen darf“

 

Der Geburtsfehler der Islamkonferenz?

Christopher Caldwell schreibt in seiner Kolumne in der Financial Times über die Deutsche Islam Konferenz, ihr Grundansatz sei geeignet, die Diversität der Muslime in Deutschland – die gerade in der hier bereits erwähnten Studie des BAMF festgestellt wurde – zu missrepräsentieren: eben gerade weil sie mit dem Ziel antrete, eine einheitliche Vertretung der Muslime zu generieren, die dann als Ansprechpartner des Staates dienen könne:

Muslims, whether they are one community or several, have certain shared values they can be expected to pursue – and are entitled to pursue – in the public sphere. A lot of important political questions today, from gay marriage to sexual education, revolve around how deeply religious principles ought to inform public law. How diverse, politically speaking, will German Muslims be?

While Mr Schäuble’s Islam Conference can be applauded as a gesture of welcome, its focus on the diversity of Muslim communities is beset with contradictions. If Islam in Germany is as diverse as the BAMF report says, then why is a big national initiative the right way to deal with it? And what is the desired outcome?

A conclave such as the Islam conference tends to elevate the invitees to semi-official status as community representatives. This gives them a strong incentive to forge a “Muslim community” where none existed. The lesson of decades of such conferences from the US civil rights movement is that they make the groups they deal with less diverse.

Ich habe hier schon gelegentlich ähnlich argumentiert, dass es irreführend sei, die Einwanderer aus überwiegend islamischen Ländern in Europa schlichtweg als „Muslime“ zu verbuchen. Dies bleibt auch ein Problem der neuen Studie: So haben wir nun auf einmal rechnerisch eine Million mehr „Muslime“ als gedacht – weil noch weitere Einwanderungsländer berücksichtigt wurden. Wie ich an anderer Stelle bereits geschrieben habe: Wir produzieren so Tag für Tag mehr „Muslime“.

Was nun die DIK angeht, kann man Caldwell insoweit Recht geben, als der ursprüngliche Ansatz ein deutsch-korporatistischer war: Wir schaffen eine islamische Kirche (ohne das freilich je so zu nennen).
Glücklicherweise hat man aber von Anfang an nichtorganisierte und nicht fromme Muslime (tja, das gibt es) hinzugenommen, um die Vielfalt darzustellen und die Debatten u n t e r Muslimen hineinzuholen.
Und unterdessen ist man von dem Ziel einheitlicher Repräsentanz gründlich abgekommen: In der Regierung strebt das niemand mehr an, der KRM (Koordinationsrat der Muslime) kann die Funktion nicht erfüllen, und unter den beteiligten Muslimen gibt es – siehe die Abschlusserklärung – viel zu viel Streit. Insofern trifft die Kritik Caldwells nicht zu.
Es war ein wichtiger Prozess, den man durchlaufen musste. Es wird keine Einheitsrepräsentanz des Islam in Deutschland geben. Mit bestimmten Gruppen – das weiss man jetzt – kommt man nicht weiter. Ditib muss sich reformieren und öffnen, wenn sie eine Rolle spielen will. Die säkularen oder Kulturmuslime (Necla Kelek, Ezhar Cezairli et al.) sind ein anerkannter Faktor der Debatte, ebenso liberale Gläubige wie etwas Seyran Ates – und das ist eine große Leistung, denn: Wo auf der Welt ist das so?

 

Das islamische Recht

Einladung zur Debatte:

Am 10. Juni 2009, 19:00 Uhr stellen wir vor: „Das Islamische Recht“

von Prof. Mathias Rohe
im Auditorium Friedrichstraße, Quartier 110
Begrüßung: Ulrich Nolte und Michael Hanssler
Es wird ein Gespräch zwischen Seyran Ates und Mathias Rohe geben, die Moderation habe ich übernommen.
U.A.w.g. bis zum 8 . Juni tel. unter (089) 3 81 89 – 316, per FAX – 587 oder E-Mail: presse@beck.de

 

„Sie gehören immer noch nicht dazu“

Ein interessantes Interview findet sicht im Magazin meiner kleinen alten taz an diesem Wochenende. Befragt wird vom Kollegen Martin Reichert die Journalistin und Autorin Güner Balci – über Neukölln, Türken in Deutschland, ihren Aufstieg und die Gründe für scheiternde Vermischung und Integration:

 

Sie sind ja jetzt auch nicht mehr Sozialarbeiterin im Neuköllner Mädchentreff, sondern ZDF-Journalistin und Buchautorin – wie geht Ihr Umfeld damit um? Mit Stolz?

Ja, sehr. Blöd fanden sie allerdings meist meine islamkritischen Beiträge, meine Kritik an der Migrationsgesellschaft. Da haben sie mich immer wieder angesprochen, dass ich sie schlechtmachen würde. Trotzdem war es zwischen denen und mir immer ein vernünftiges Gespräch. Denn ich bin immer noch eine von uns. Das ist ja jetzt nicht so, dass ich sage: „Jetzt habe ich den Absprung geschafft, bin weg von euch und will mit euch nichts mehr zu tun haben.“ (…)

Güner Yasemin Balci  Foto: Fischer Verlag

Sogenannte Abiturtürken finden, dass Frauen wie Necla Kelek oder Seyran Ates „alles kaputtmachen“.

Was machen die denn kaputt? Die machen auf Dinge aufmerksam, auf die man eben zeigen muss. Den sogenannten Abiturtürken geht es offenbar nur darum, dass niemand nestbeschmutzt. Die schicke Fassade soll aufrechterhalten werden. Ich nenne die auch Hollywoodtürken.

(…) 

Geht es insgeheim womöglich darum, dass es bestimmte Dinge gibt, die bitte in der Familie bleiben sollen – über die man „draußen“ in der Mehrheitsgesellschaft nichts erfahren soll?

Ein Image soll aufrechterhalten werden. Wir sind die ordentlichen, fleißigen Gastarbeitertürken. Da gibt es vielleicht mal einen Ehrenmord oder eine Zwangsehe, aber eigentlich sind wir doch vernünftige Menschen, durch die Bank. Und jetzt kommen da zwei Hexen und machen alles kaputt. In der Türkei ist das mittlerweile ein viel größeres Thema als hier, auch Prominente äußern sich, das Thema wird in Vormittagstalkshows behandelt.

Warum ist das so ein Problem für „Abiturtürken“?

Die, die es geschafft haben, haben meist ein Identitätsproblem. Es kommt eben immer darauf an, aus welchem Milieu sie kommen, was sie für Eltern hatten, als sie herkamen oder hier geboren wurden. Manche erfolgreiche türkischstämmige Geschäftsleute verleugnen diese Wurzeln dann – das ist auch verlogen.

Und woher die krasse Abneigung gegen Seyran Ates und Necla Kelek?

Die Probleme, über die beide sprechen, sind für viele Probleme einer „bäuerlichen“ Gesellschaft. Sie brüsten sich und sagen: „Wir, die gebildeten Kemalisten aus Istanbul, bei uns gibt’s das nicht!“

Könnte doch sein, oder?

Das ist aber eine Lüge, alle von Kelek und Ates benannten Probleme findet man in allen Gesellschaftsschichten der Türkei. Es stimmt eben auch nicht, dass die Frauenrechte seit Atatürk immer hochgehalten wurden. Wenn man da mal dran kratzt, sieht man schnell, dass es da noch Nachholbedürfnisse gibt, sowohl was die Frauen- als auch was die Menschenrechte angeht. Letztlich ist die Türkei eine männerbestimmte Gesellschaft, in der Frauen auch mal Führungsaufgaben übernehmen dürfen.

Wenn man Ihr Buch liest, hat man das Gefühl, dass es gar keine Möglichkeiten gibt, der Traum von erfolgreicher Einwanderung könne wahr werden. Wie kann man den Menschen helfen?

Bei den Älteren geht es jetzt, glaube ich, nur noch darum, dass sie einigermaßen gut versorgt sind im Alter. Aber ansonsten ist diese Generation eher der Meinung, dass sie nun ihre Pflicht getan hat. Zum Teil leben sie auch schon halb in der Türkei – die sieht man ja auch kaum im öffentlichen Leben Deutschlands. Häufig sind sie auch krank, weil sie immer viel gearbeitet haben und wenig Geld hatten. Es ist wichtig, dass man die Menschen erreicht, die hier in Deutschland zur Welt gekommen sind.

 

Und wie geht das?

Ebendiese Menschen gehören noch immer nicht zur deutschen Gesellschaft. Sie betrachten sich auch selbst nicht so. Man muss deutlicher machen, dass all diese Aishes und Tareks – und wie sie alle heißen – Teil dieser deutschen Gesellschaft sind. Was sollen sie denn auch sonst sein: Sie sind hier geboren und aufgewachsen! Statt immer nur ihre besonderen kulturellen Eigenheiten zu betonen, sollte man sie genauso in die Verantwortung nehmen wie alle anderen auch. Weiter„„Sie gehören immer noch nicht dazu““

 

Die Differenzierungsfalle

Ein Essay von Seyran Ateş
(Auszug aus einem Text, der heute auf der neuen Meinungsseite der ZEIT erscheint. Mehr an einem Kiosk Ihres Vertrauens.)

Wer sich wie ich seit Jahren an der Debatte über Integration beteiligt, wird immer wieder mit der Forderung konfrontiert, man müsse dies oder jenes doch bitte „differenziert betrachten“.
Differenzierung ist ein Zauberwort in der Integrationsdebatte. Es entscheidet darüber, ob jemand politisch korrekt ist oder nicht, ob er oder sie zu den Guten oder zu den Bösen gehört. Und was könnte man wohl gegen diese Forderung haben? Wer wollte schon gerne als undifferenziert, als polarisierend bewertet werden? „Sie waren toll, Sie haben das so differenziert dargestellt, sie haben nicht polarisiert. Vielen Dank“. Wenn nach einem Vortrag solches Lob kommt, macht sich meist Erleichterung breit.

Doch merkwürdig: Ich für meinen Teil denke mittlerweile, dass ich etwas falsch gemacht habe, wenn ich diesen Satz höre. Die Differenzierungsfalle hat mich erwischt. Konnte ich meine Position überhaupt vermitteln, wenn ich doch so schön differenziert habe, dass niemand sich auf den Schlips getreten fühlt? (…)

Die Differenzierungswächter hätten gerne, dass wir solange differenzieren, bis es nur noch unvergleichliche Einzelfälle gibt – keine Deutschen gibt, keine Türken, keinen Islam, keine Ehrenmorde und keine Zwangsehen. (Nur bei bedrängten Minderheiten wie den Kurden hört der Spaß auf, die traut sich kein politisch korrekter Deutscher wegzudifferenzieren.) Deutschland, gibt es dieses Land überhaupt? Deutschsein ist doch lediglich eine Konstruktion, glaubt der ausdifferenzierte, politisch korrekte Multikulti-Anhänger. Dass es so etwas wie eine deutsche Identität gibt, stellt eine Provokation für viele Linke und Liberale dar.

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Seyran Ates

(…)

Nach diesem Muster läuft die Debatte über die jüngsten Änderungen des Zuwanderungsgesetzes. Die Anforderung, Sprachkenntnisse schon im Herkunftsland zu erwerben, sei reine Türkenfeindlichkeit, hieß es von seiten der Migrantenverbände. Hunderte, wenn nicht gar Tausende anatolische Bäuerinnen, die Analphabetinnen sind – so die Klage -, dürfen nicht zu ihrem Ehemann nach Deutschland, wenn sie vor der Einreise keine ausreichenden Sprachkenntnisse nachweisen. Wie kann man nur von diesen armen Frauen verlangen, dass sie 300 – 400 deutsche Wörter lernen, sagen die Kritiker der Gesetzes. Diese Frauen sind doch eh schon Opfer des Kapitalismus, des Patriarchats, des Westens – und nun auch noch des deutschen Zuwanderungsgesetzes.

Warum sollen diese Frauen nicht einfach nachziehen dürfen? Liebende werden getrennt, das Zusammenkommen erschwert. Ich sehe regelmäßig in vor Romantik triefende Augen, wenn ich diese Erklärung höre. Die Forderung nach Sprachkenntnissen – da sind sich türkische Funktionäre und deutsche Gutmenschen einig – ist unmenschlich.
Haben sich diese armen Frauen denn etwa in einem romantischen Moment in einen in Deutschland lebenden Verwandten oder Bekannten der Familie verliebt?
Eine anatolische Frau vom Land ohne Sprachkenntnisse hat keine Möglichkeiten,sich auf dem Heiratsmarkt nach Gutdünken umzuschauen. Vieles spricht dafür, dass sie gegen ihren Willen ins reiche Deutschland verheiratet wird. Sie mag es zwar selbst durchaus auch als Befreiung empfinden, durch Heirat ihre Lebenssituation zu verändern. Doch damit sie in Deutschland dem Ehemann nicht schutzlos ausgesetzt ist, wäre es doch wohl von Vorteil, wenn sie einige wenige Worte Deutsch spricht, oder?

Wenn ich so argumentiere, schnappt die Differenzierungsfalle zu: Wie kann ich diese Frage überhaupt stellen? Das unterstellt doch, alle diese türkischen Frauen würden zwangsverheiratet werden. Das sei eine unzulässige Verallgemeinerung, eine Sünde wider das Differenzierungsgebot.

(…)

Wenn wir ein Einwanderungsland werden wollen, das seinen Namen verdient, brauchen wir eine Identifikation mit Deutschland. Damit können sich die Differenzierungsstreber nicht anfreunden. Den Einwanderern die Identifikation mit Deutschland nahezulegen, läuft politisch korrekten Menschen zuwider. Sie halten es für historisch überholt, daß der Mensch eine Identifikation mit dem Land brauche, in dem er lebt.

(…)

Es gibt nicht nur ein Identitätsproblem der Zuwanderer, sondern auch eines der Deutschen, die sich selbst und ihr Land nicht leiden können. Beide bedingen einander. Statt sich weg zu differenzieren müssen die Deutschen lernen, sich und ihre nationale Identität zu akzeptieren.

Es ist eine Ironie der Integrationsdebatte, dass diejenigen, die ihr Deutschsein verleugnen, uns Einwanderern immer wieder erklären, dass wir stolz darauf sein sollten Migranten – Türken, Kurden, Muslime zu sein. Sie kämpfen für den Erhalt unserer Identität und sind irritiert, wenn wir ihre Aufforderung nicht erfüllen. Wenn wir ihnen erklären, dass wir mehrere Identitäten haben, und zwar auch eine deutsche, sind sie ganz verzweifelt, weil sie nun gar nicht verstehen können, wie jemand freiwillig Deutscher sein kann. Ob diesen Menschen aufgefallen ist, dass Erdoğan ganz ähnlich wie sie argumentiert?

(…)

 

Scheitert der Integrationsgipfel?

Berlin
Vor einem Jahr wollten alle mit aufs Foto: Die Bundeskanzlerin hatte zum ersten In­te­gra­tions­gip­fel ins Kanzleramt geladen. Ein anderes, bunteres Deutschland präsentierte sich da. An diesem Donnerstag tagt der zweite Gipfel, bei dem das Ergebnis eines Jahres voller Diskussionen präsentiert wird – der erste Nationale Integrationsplan der Bundesrepublik, gemeinsam erarbeitet von Bund, Ländern, Kommunen und Migranten.
Doch diesmal drängen sich die Sprecher der größten Einwanderergruppe – der Türken – nicht mit Angela Merkel aufs Bild. Die säkulare Türkische Gemeinde (TGD) und der Moscheeverband Ditib haben die alte Kampfrhetorik wieder ausgepackt und beklagen »Ausgrenzung« und »Diskriminierung«. Sie drohen der Kanzlerin mit Boykott, und sie appellieren an den Bundespräsidenten: Köhler soll das neue Zuwanderungsgesetz nicht unterschreiben, das soeben den Bundesrat passiert hat. Wenn die Regierung sich nicht bereit zeige, die Verschärfungen beim Ehegattennachzug, bei den Integrationskursen und beim Staatsangehörigkeitsrecht zurückzunehmen, werde man nicht mehr am Gipfel teilnehmen.
Wer glaubt, am Ende eines langjährigen Gesetzgebungsverfahrens mit intensiver öffentlicher Debatte würde der Präsident oder die Kanzlerin eine demokratische Mehrheitsentscheidung revidieren, weil eine Minderheit sich übergangen fühlt, hat wohl noch zu lernen, wie die Dinge hierzulande laufen. Auf eine Einladung der Kanzlerin mit einem Erpressungsversuch zu reagieren ist aber vor allem eines: ziemlich ungeschickt.
Nicht nur, weil Angela Merkel schon ein ganzes Jagdzimmer voll mit ausgestopften Ministerpräsidenten hat, die das Gleiche versucht haben. Es macht sich einfach nicht gut, wenn eine Gruppe, der man seit Jahren Integrationsdefizite vorhält, mit weiterer Integrationsverweigerung droht. Das unausgesprochene Ultimatum der türkischen Verbände an die Bundesregierung lautet: Nur wenn ihr die Regulierung der Zuwanderung zurücknehmt, machen wir bei der Integration mit. Beim Publikum kommt das so an: Die Möglichkeit, weiter 16-jährige Bräute ohne Deutschkenntnisse hierher zu holen, interessiert uns mehr als euer Dialog. Wer solche Sprecher hat, braucht keine Feinde mehr.
Steht der Gipfel – und damit der ganze Ansatz eines neuen deutschen Modells der Integrationspolitik vor dem Scheitern? Keineswegs. Im Gegenteil, die türkischen Verbände haben mit ihrer Krawallaktion unfreiwillig den Beweis dafür geliefert, dass der Gipfelprozess schon wirkt. Er ist keine harmlose Symbolpolitik, wie Kritiker glauben. Der Gipfel hat die abgegriffenen Konsensvokabeln »Integration« und »Dialog« entharmlost. Es geht um den Kern des Integrationsproblems – die Frage, wie Deutschland sich zu den Migranten und die Migranten sich zu Deutschland stellen.
Die riskante Wette, die die Bundesregierung mit ihrer neuen Politik eingegangen ist, lautet: durch wechselseitige Lebenslügen-Abrüstung zu einem neuen Wir. Wir Alteingesessenen hören auf zu leugnen, dass dieses Land ein Einwanderungsland ist, und ihr Neuen begreift euch als selbstverantwortliche Bürger, die etwas beizutragen haben.
Die türkischen Verbände sind damit offenbar überfordert. Auf die Einladung, Partner auf Augenhöhe zu werden, reagieren sie mit panischer Flucht in die Opferrolle. Ihre Kritik am Zuwanderungsgesetz dekonstruiert sich von selbst. Sie behaupten, Sprachkenntnisse wichtig zu nehmen, prangern aber verpflichtende Deutschkurse für türkische Bräute im Herkunftsland als unzumutbare »Hürde« an. Sie sprechen sich gegen Zwangsehen aus, sehen aber die Erhöhung des Zuzugsalters von 16 auf 18 als Beleidigung des Türkentums. Die türkische Feministin Seyran Ateş nennt dies »Kulturchauvinismus«: Die Wahrung der türkischen Identität sei wichtiger als Integrationserfolg und Frauenrechte.
Die Bundesregierung tut gut daran, ihre Wut über die türkische Rückschrittlichkeit herunterzuschlucken und einfach weiterzumachen, zur Not auch ohne Ditib und TGD. Die Kritik an diesen Verbänden wird auch in Migrantenkreisen immer lauter. Die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer etwa ignoriert den Boykott und kommt zum Gipfel. Und der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Ayman Mazyek, äußert zwar Verständnis für die Kritik am Zuwanderungsgesetz, findet aber, sie »sollte beim Gipfel selbst zur Sprache kommen«.
Der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU), die beim Nationalen Integrationsplan die Feder führt, haben die türkischen Boykotteure auf den zweiten Blick einen Gefallen getan. Ihr Gipfel stand im Verdacht, eine unverbindliche Wohlfühlveranstaltung zu sein – im Schatten der interessanteren Islamkonferenz Wolfgang Schäubles, der gern beide Register spielt, den sanften Identitätsmodernisierer wie den sicherheitspolitischen Doktor Eisenbart.
Das war ungerecht, wie sich jetzt zeigt. Böhmer hat auf ihre freundlich-verbindliche Weise die Funktion der Integrationsbeauftragten verändert. Sie verstehe sich nicht wie ihre Vorgänger als »Anwältin der Mi­gran­ten«, wird ihr nun von Lobbygruppen vorgeworfen. Dabei ist das eine gute Nachricht. Die Idee, Migranten brauchten eine Anwältin im Kanzleramt ist Teil des falschen Denkens, das endlich durchbrochen wird. Die Kehrseite des alten Schemas war, dass der Innenminister die Anregungen der Anwältin genervt in der Gedöns-Ablage versenkte. Damit ist Schluss. Zuwanderer sind, auch wenn ihre Sprecher versäumen, dies he­raus­zu­stel­len, oft mutige, risikofreudige Menschen. Sie brauchen keine Bemutterung, sondern müssen angesprochen werden als fürs eigene Leben Verantwortliche. In­te­gra­tion ist für Maria Böhmer nichts, was der deutsche Staat mit den Zuwanderern und ihren Nachkommen macht. Sie müssen es zu allererst selbst wollen. Die deutsche Gesellschaft muss dafür Chancengleichheit bieten.
Böhmers Nationaler Integrationsplan setzt vor allem auf Selbstverpflichtung. Erstmals hat sich eine ganz große Koalition in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auf einen Maßnahmenkatalog geeinigt. Die ausländische Wirtschaft will 10 000 Ausbildungsplätze schaffen. Auch ARD, ZDF und die Privaten werden junge Migranten zum Zug kommen lassen. Der Bund wird vermehrt Zuwanderer in seiner Verwaltung beschäftigen. Die deutsche Industrie bekennt sich zur ethnischen Vielfalt als Einstellungskriterium. Die türkischen Eltern- und Lehrervereine starten eine Bildungsoffensive, um Eltern an die Schulen heranzuführen. Die Länder werden die frühkindliche Bildung von Migranten verbessern und flächendeckend frühe Deutschtests einführen. Die Sportverbände werden Zuwanderer vermehrt als Trainer ausbilden. Der Bund wird die Länge der Integrationskurse von 600 auf 900 Stunden aufstocken und ausdifferenzieren, mit Kinderbetreuung und Frauenkursen.
Sind die Selbstverpflichtungen nur wohlfeile Versprechungen, wie manche Kritiker sagen? Dafür lastet zu viel Druck auf dem Thema. Die Große Koalition kann sich ein Scheitern ihres ehrgeizigsten gesellschaftspolitischen Projekts nicht leisten. Über den Machtspielchen der vergangenen Woche sollte man nicht vergessen, warum der Integrationsgipfel in Angriff genommen wurde: Die Regierung war kaum im Amt, da brannten die Banlieues in Frankreich, es krachte auch in der Rütli- und der Hoover-Schule in Berlin. Die homegrown terrorists in England wurden von der Großen Koalition als Menetekel gesehen.
Der Integrationsgipfel war die richtige Reak­tion auf diese Schockwelle. Mit dem Bund ist ein neuer Spieler in der Integra­tionspolitik aufgetaucht, der auch dort viel bewegen kann, wo er nicht zuständig ist: Er bringt die Beteiligten in Zugzwang. Die Länder müssen nun zeigen, wer die besten Konzepte in der Bildungspolitik hat. Die Kommunen wetteifern um kreative Ideen gegen Ghettobildung und Jugendgewalt. Und die Mi­gran­ten stehen, überfordert und geschmeichelt zugleich, vor der guten alten Kennedy-Frage, was sie für ihr Land tun können.
Der Streit geht weiter, die Integration kommt voran.

p.s. Heute in den türkischen Zeitungen:
Der Boykottaufruf vier großer türkischer Verbände gegen den Integrationsgipfel ist heute erneut Top-Thema unter den in Deutschland erscheinenden türkischen Zeitungen. „Türkisches Ultimatum an Merkel“, heißt der Aufmacher der HÜRRIYET, der in der Unterzeile „den ehrenhaften Widerstand in Deutschland lebender Türken“ lobt. Ähnlich drastisch die angeblich liberale MILLIYET, die in ihrem Aufmacher „Berlin in Schutt und Asche“ sieht, weil das Ultimatum „in Berlin wie eine Bombe eingeschlagen“ habe. Etwas unaufgeregter die übrigen Zeitungen: „Ermahnung an Merkel vor dem Gipfel“, titelt die ZAMAN, einen „Aufruf an Merkel“ erkennt die TÜRKIYE und die SABAH wieder etwas schärfer „die letzte Warnung“.
Schutt und Asche? Was denken sich die lieben türkischen Kollegen eigentlich? Glauben die, das kriegt ja eh kein Deutscher mit? Kann der Presserat da mal was machen?

 

Mozart als Muslim-Test. Die Berliner Wiederaufnahme des „Idomeneo“

In Berlin geht man jetzt nicht mehr einfach in die Oper. Man checkt ins Opernhaus ein wie am Flughafen.

Metalldetektoren, Taschenkontrollen, grimmig dreinschauende Herren mit Kabel hinterm Ohr. Und da kommt auch schon der Innenminister mit seinem Tross, für den sich magische VIP-Schleusen öffnen.
So war es jedenfalls am Montag, als an der Deutschen Oper der »Idomeneo« zur Wiederaufführung kam, der im September in vorauseilender Selbstzensur abgesetzt worden war.

Man hatte Anschläge von Islamisten befürchtet, weil in der Schlusszene die abgetrennten Häupter von Poseidon, Buddha, Jesus und Mohammed zu sehen waren. Den weltweiten Aufruhr nach der Absetzung der Oper hatte Wolfgang Schäuble elegant gekontert, indem er die gesamte Islam-Konferenz zum gemeinsamen Besuch der Wiederaufnahme einlud – eine schöne Gelegenheit, etwas für die Rede- und Kunstfreiheit zu tun.
Schäuble hat damit auch etwas für die Deutsche Oper getan, wie sich zeigte: So voll war das krisengeschüttelte Haus seit Jahren nicht mehr. Man sollte in Betracht ziehen, das Kulturressort wieder ins Inneniministerium zurückzuverlegen.
Denn dieser Minister kann kulturpolitische Weihnachtswunder bewirken. Zum Beispiel vermag er halbtote Opern zum Leben erwecken. Die Berliner Gesellschaft war vollständig erschienen, um sich zur Kunstfreiheit zu bekennen. Und um die anderen dabei zu beobachten, wie sie es tun.

Und ein wenig auch um selbst dabei gesehen zu werden. Ist das nicht der Kulturstaatsminister Neumann, der da auf Englisch mit Al-Dschasira parliert? Und das ist wohl die Integrationsministerin Böhmer, die dem japanischen Fernsehen Rede und Antwort steht? Und dies dort muss der Autor Peter Schneider sein, der, ebenfalls auf Englisch, einen Vortrag über Idomeneo und Abraham hält.Sie waren alle gekommen – die Stölzls und Döpfners, die Künasts und Pflügers, die Lammerts und Körtings und Wowereits.
Schäuble hatte viel riskiert mit seiner Einladung an die Muslimvertreter, sich einen Ruck zu geben und demonstrativ die Oper zu besuchen. Das wurde gerade in den letzten Tagen deutlich, als die Repräsentanten des Zentralrats der Muslime und des Islamrats ihren Boykott verkündeten.

Mit einem mal schien nicht nur die symbolische Opern-Aktion, sondern das ganze große Islam-Projekt des Innenministers auf Messers Schneide zu stehen. Doch es war nur Theaterdonner, und am Ende hatte Schäuble alles richtig gemacht.
Ali Kizilkaya vom Islamrat hatte Schäubles Einladung »ein wenig populistisch« genannt: »Jetzt läuft es nach dem Motto: Nur wer zur Oper geht, ist integriert. Die anderen sind noch nicht so weit.«

Und Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime fühlte sich gar »politisch instrumentalisiert«: »Ich gehe in die Oper, um mich zu entspannen und nicht, um Religion, Kunst und Poltitik in einen Topf zu werfen.«

Mazyek blieb trotzig weg. Kizilkaya aber kam zur Oper, und blieb doch der Aufführung fern. Er war freilich gerne bereit, seine Haltung vor Journalisten zu begründen. So kam es, dass der Muslimvertreter, der die Oper nicht gesehen hatte, am meisten auf Sendung war.
Schäuble gab sich nachher im Gespräch zufrieden selbst mit dieser Haltung: Wenn jemand durch seine Anwesenheit dafür eintrete, dass die Oper aufgeführt werden könne, reiche ihm das.
Und die Opernverweigerer vom Zentralrat der Muslime? Haben Sie nicht auch das gute Recht, fernzubleiben? Niemand sollte zum Besuch einer Oper genötigt werden, um seine freiheitliche Gesinnung zu beweisen.

Der Regisseur Hans Neuenfels hat selbst bekannt, es gehe in seiner Inszenierung »um die Infragestellung von Autorität, von politischer wie geistlicher, denn hier kämpft ein Menschenkönig gegen einen Gott.«

Es wäre widersinnig, ausgerechnet ein Kunstwerk, das kritisch-subversiv sein will wie diese Neuenfels-Inszenierung, zum Geßlerhut der politischen Korrektheit zu machen, vor dem sich jeder zu verneigen hat, der dazugehören will.

Wer Mozart als Muslim-Test benutzt, tut der Kunst einen Tort an. »Als Vertreter einer Religionsgemeinschaft bin ich weder Kunstkritiker noch zuständig für Geschmacksfragen«, hatte Aiman Mazyek, der Generalsekretär des Zentralrats seine Absage begründet.
Im Karikaturenstreit hatten die beiden Muslimvertreter, die sich jetzt so zurückhaltend gaben, allerdings wenig Hemmungen gezeigt, als Kunst- und Geschmacksrichter im Namen einer ganzen Weltreligion aufzutreten. Man wird sie daran erinnern müssen.
Der Abend in der Oper hat gezeigt, dass es unter Muslimen viele nuancierte Haltungen zur Freiheit der Kunst gibt.

Bekir Alboga, Vertreter des größten Moscheeverbandes, der türkeinahen Ditib, stand die ganze Vorstellung mannhaft und mit guter Laune durch, wenn auch am Ende ein wenig mit zusammengebissenen Zähnen, als die blutigen Köpfe auf die Bühne kamen. Geklatscht hat er bei dieser Szene nicht. Aber es scheint, als hätte auch ihn das Stück nicht kalt gelassen.

Es geht darin – sehr ernst und unmozartisch – um einen Vater, der in die tragische Lage geraten ist, seinen Sohn opfern zu sollen – und die grausamen Götter um Gnade bittet. Das ist ein Thema, das wahrlich auch Muslime angeht. Bei Mozart sind die Götter am Ende gnädig, unter der Bedingung, dass König Idomeneo auf die Macht verzichtet.
Manche Muslimvertreter scheint der Prozess, den Wolfgang Schäuble durch die Einberufung der Islam-Konferenz gestartet hat, einstweilen zu überfordern. Sie kommen noch nicht mit der neuen Situation klar, dass sie nun Partner sind und sich nicht mehr als mißverstandene Opfer sehen können.

Zentral- und Islamrat haben Probleme mit der Zusammensetzung der Islam-Konferenz. Es paßt ihnen nicht in den Kram, daß die Konferenz die ganze breite des muslimischen Lebens in Deutschland zu repräsentieren versucht – Konservative, Liberale, Säkulare und Islamkritikerinnen wie Necla Kelek und Seyran Ates. Sie werden damit leben müssen.
Wolfgang Schäuble spielt einen hohen Einsatz, indem er die Islam-Konferenz zu seinem großen persönlichen Projekt gemacht hat.

Er hat die Teilnehmer nicht in die Oper eingeladen, um sie moralisch zu erpressen, sondern um zu beweisen, dass auch Muslime Rede- und Kunstfreiheit zu schätzen wissen – selbst da, wo es weh tut.

Dass der Kulturkampf bei einem gemeinsamen Opernbesuch beigelegt wird – bestrickt von Mozarts Musik, die die Verschonung eines Opfers durch gnädige Götter feiert – ist sicher eine sehr deutsche Idee. Doch der sympathische kulturprotestantische Idealismus des Innenministers ist diesmal aufgegangen.

p.s. Man kann das ja jetzt so sagen, da wir diesen Pseudo-Kulturkampf überstanden haben: Die Neuenfels’sche Schluss-Idee mit den abgeschlagenen Köpfen ist einfach nur Blödsinn: Die Versöhnung hat ja in der Oper schon stattgefunden. Idomeneo wird von der Blutttat verschont, wenn er die Macht aufgibt.

Die Götter wollen bei Mozart kein Blut sehen. Dass der König den Religionsstiftern dann trotzdem die Köpfe abschlägt, ist eine aufgesetzte Religionskritik für Dumme. Und im Falle von Jesus, wenn ich das so sagen darf, leuchtet es am allerwenigsten ein. Er hat sich schließlich schon kreuzigen lassen.

 

Wie die deutschen Parteien ihre Einwanderungspolitik neu sortieren

Diesen Text habe ich auf Einladung der Deutschen Botschaft Washington und der dortigen Heinrich-Böll-Stiftung am Mittwoch, den 15. November 2006, vor dem „Human Rights Caucus“ im amerikanischen Kongress vorgetragen. (Zum Rückübersetzen fehlt mir leider die Geduld.)

Testimony before Congressional Human Rights Caucus, Washington, November 15.

Ladies and Gentlemen,

the issue of national identity and belonging – who we are as a nation and what keeps us together – has always been a crucial and delicate one in Germany.

It has been delicate for ethnic Germans during the postwar era for obvious reasons.

And it is also a pretty tough one for those who migrated to Germany in the last decades. There is a lot of talk about integration in Germany today. The word is often used as if it was a self-evident term. The foreigners, the „Ausländer“, the migrants, the muslims, the Turks are told they’re supposed to better integrate into German society.

This concept is hardly ever questioned anymore. And why should it be? It really sounds self-evident, doesn’t it? Well, of course, it isn’t. Because if you want someone to be better integrated, this supposes that you have a fairly clear idea of what he should integrate himself into.

Let me tell you a little story to show you how tricky and ironic these things can get in Europe, and in Germany especially… Weiter„Wie die deutschen Parteien ihre Einwanderungspolitik neu sortieren“

 

Die neue Kopftuchdebatte – Anfang vom Ende des muslimischen Machismo?

Seit die grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz vor etwas mehr als zwei Wochen an die muslimischen Frauen in Deutschland appelliert hat, das Koptuch abzulegen und im Hier und Jetzt anzukommen, ist ihr Leben auf den Kopf gestellt. Die 1971 in der Türkei geborene Deligöz, die sich selbst als Lobbyistin für Migranten sieht, ist zur Hassfigur für Fundamentalisten und Nationalisten geworden, die sich in ihrem Macho-Gehabe nicht nachstehen. Sie wurde als „Nazi“ beschimpft, mal auch als neue Ayan Hirsi Ali, es gab Morddrohungen. Nun lebt sie unter Personenschutz.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, schrieb einen Brief an den türkischen Botschafter in Deutschland, Irtemcelik. Der ließ die Bitte um Hilfe kalt abtropfen: Es sei nicht Sache des türkischen Staates, sich in diesen Streit einzumischen. Künast solle sich lieber an die türkische Presse wenden. Wenn es darum geht, sich über vermeintliche Türkenfeindlichkeit beschweren, ist die Botschaft nicht so zurückhaltend. Der Botschafter sollte seine Haltung überdenken: Der größte islamische Verband in Deutschland, Ditib, wird de facto vom Religionsministerium in Ankara und von der Botschaft in Berlin aus gesteuert. Und da sollte der Botschafter nichts zu einem Thema zu sagen haben, dass säkulare und religiöse Türken in Deutschland spaltet?

Um so erfreulicher, dass sich eine breite, überparteiliche Front vor Ekin Deligöz aufbaut, um sie gegen das Klima der Einschüchterung zu beschützen. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sagte im Deutschlandfunk, der Gesetzgeber müsse »mit aller Entschiedenheit durchsetzen«, dass man seine Meinung äußern darf. »Wenn man bedroht wird, dann ist was nicht in Ordnung.« Solange dies so sei, bekomme Deligöz Polizeischutz. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte: »Ein solches Klima des Hasses gegen eine Person, die lediglich ausspricht, was viele denken, ist nicht hinnehmbar.« Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach (CDU) sagte dem Sender n-tv: »Wir müssen jetzt alle Rückgrat zeigen, und sie hat die uneingeschränkte Solidarität der ganzen zivilisierten Gesellschaft verdient.«

Das ist eine überraschende schwarz-grüne Koalition: Über den Umweg der Kopftuchfrage entdecken die Innenpolitiker der Union den Feministen in sich. Aber man sollte nicht spotten: Die Union spricht neuerdings mit grösserer Glaubwürdigkeit in diesen Dingen. Seit Wolfgang Schäuble den Muslimen durch die Islam-Konferenz eine ausgestreckte Hand geboten hat und seine Absicht erklärt hat, den Islam hier einzubürgern, können Äusserungen zum Kopftuch und zum Verhältnis von Religions- und Meinungsfreiheit nicht mehr als Islamophobie abgetan werden.

Es kommt noch ein Aspekt hinzu: Die Debatte wird zum Glück nicht mehr nur zwischen Deutschen und Türken, Christen und Muslimen, zwischen Mehrheit und Minderheit geführt. Der Kampf der Kulturen findet tatsächlich statt, aber zunehmend innerhalb der jeweiligen Lager. Es stehen auch im Islam immer häufiger selbstbewußte Reformer gegen Konservative. Heute sind es vor allem Frauen mit – schreckliches Wort – Migrationshintergrund, die sich den Mund nicht mehr verbieten lassen und ihre Rechte einfordern – so wie die Anwältin Seyran Ates, die Soziologin Necla Kelek, die Autorin Serap Cileli, die SPD-Abgeordente Lale Akgün und nun auch die Grüne Ekin Deligöz. Die deutschen Türken könnten eigentlich stolz sein, eine ganze Reihe solcher bemerkenswerter Frauen hervorgebracht zu haben.

Aber leider werden sie von Männern repräsentiert, die den weiblichen Freigeistern um Jahre hinterherhinken. Sie haben sich in der Pose des Opfers eingerichtet. Alles dreht sich um Ehre, Respekt und Anerkennung. Sie sind stets vorwurfsvoll und leicht kränkbar, egal ob es um den EU-Beitritt, das Kopftuch oder den Genozid an den Armeniern geht.

Diese Repräsentanten haben grosse Probleme, sich auf die neue Lage einzustellen, die durch Schäubles Integrationsinitiative entstanden ist: Sie müssen nun von Minderheitenlobbyisten, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, sich (leider oft zu Recht) über Diskriminierung zu beschweren, zu Partnern werden, die auf Augenhöhe darüber verhandeln, welchen Beitrag sie zum Gedeihen des Landes leisten können.

Die Vertreter der islamischen Verbände haben nun zwar betont, sie teilten Deligöz‘ Meinung über das Kopftuch nicht, sie lehnten die Drohungen aber scharf ab. Das ist immerhin ein Anfang – auch wenn erst wochenlanger öffentlicher Druck sie dazu bewegt hat. Wenn sie als Teil der Zivilgesellschaft Respekt verlangen und anerkannt werden wollen, müssen sie in Zukunft endlich von sich aus die Menschenrechte verteidigen – und zwar nicht nur dann, wenn es um die Rechte der Kopftuchträgerinnen geht.

Die frechen Frauen, die keine Lust haben, sich länger von ihnen vertreten zu lassen wollen, passen natürlich nicht in den Kram. So ist es zu erklären, dass der Islamrat Deligöz in rüder Sprache zurechtwies, sie solle „ihr Brett vom Kopf“ entfernen, bevor sie übers Kopftuch redet. So ist die Entgleisung des Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, zu verstehen, der gestern nach der Aussprache mit Deligöz sagte: „Was sie gesagt hat, ist für mich Unsinn.“ Wichtig für ihn sei aber auch, „dass sie diesen Unsinn verbreiten darf“.

Diese gönnerhaft-unverschämte Art – nie würde man über einen männlichen türkischen Politiker derart herziehen! – kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Macht der Machos in der türkisch-muslimschen Community schwindet. Wenn der Schmerz darüber nashlässt, werden die angehalfterten Patriarchen sehen, dass Ekin Deligöz und die anderen mutigen Frauen auch ihnen einen Dienst erweisen.