In der Schweiz steht durch den Erfolg der Minarettverbots-Initiative und die nun folgende Umsetzung das weitgehende Modell der Volkssouveränität auf dem Prüfstand – dramatischer ausgedrückt: vor dem Scheitern.
Denn der Fall läuft am Ende darauf hinaus, dass das Volk in der direkten Demokratie Gesetze macht, deren zwingende Umsetzung den schweizerischen Staat in Widerspruch zu seinen vökerrechtlichen und menschenrechtlichen Verpflichtungen bringt.
Wie kommt man aus diesem Dilemma bloß wieder heraus? Dem geht ein Artikel in der NZZ von Claudia Schoch nach, in dem es heißt:
„Der Bundesrat sieht laut seinem Anfang März veröffentlichten Bericht zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht jedoch keinen direkten Handlungsbedarf. Er stellt darauf ab, dass jeweils eine völkerrechtskonforme Umsetzung für die Initiativen gefunden werden könne. Das war bisher auch der Fall ausser bei der Minarettverbots-Initiative. Doch damit verharmlost er das Problem. Denn je öfter Initiativen vom Volk angenommen werden, die zur Umsetzung abgeschwächt und umgebogen werden müssen, umso mehr wächst das Misstrauen unter den Bürgern. Eine direkte Demokratie, die nicht direkt umsetzen kann, was vom Volk beschlossen wurde, sägt am Ast, auf dem sie sitzt.“
Das Verbot des Minarettbaus kollidiert vor allem mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die die Schweiz ratifiziert hat. Dort heißt es:
Art. 9 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Nun müßte man entweder argumentieren, ein Minarett sei gar kein Teil des religiösen Bekenntnisses, sondern etwas anderes – also etwa ein „imperiales Machtsymbol für den politischen Anspruch einer Religion“. Die Religionsfreiheit werde damit überhaupt nicht berührt. So tut es ja auch die Bewegung der Minarettgegner.
Aber dagegen läßt sich anführen, dass Minarette seit vielen Jahrhunderten zum typischen Baustil von Moscheen gehören – „wie der Kirchtum zur Kirche“ – und ihre Errichtung somit Teil der Religionsausübung ist, auch wenn eine Moschee nicht zwingend über ein Minarett verfügen mus, um als Gebetsstätte zu funktionieren. Das Minarett findet sich an Moscheen, in denen politische Ansprüche der Religion artikuliert werden ebenso wie an solchen, in denen das nicht geschieht. Es ist mithin kein eindeutig religiös-politisch zu fixierendes Symbol. (Es gibt minarettlose Hinterhofmoscheen, die radikaler sind als die minarettbewehrten.) Wie man jedenfalls begründen will, dass ein Verbot des Minarettbaus eine „notwendige Einschränkung“ der Religionsfreiheit wäre (und nicht etwa nur der Ausdruck eines Mehrheitengeschmacks oder diffuser Ängste, wie berechtigt auch immer) – notwendig mithin „für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung“ – das ist völlig schleierhaft.
Mit anderen Worten: Ein Minarettverbot hält der EMRK nicht stand, und damit kommt das schweizer Demokratiemodell in die Krise. Denn den Volkswillen nun nicht umzusetzen geht auch nicht. Wo liegt der Ausweg?
Es bestehe „keine generelle Möglichkeit, das Bundesgericht anzurufen mit der Begründung, ein Bundesgesetz verstosse gegen die Bundesverfassung oder das Völkerrecht“, schreibt Frau Schoch in dem oben zitierten Artikel. „Dazu gibt es aber seit gut zehn Jahren eine Ausnahme, die viele Bürger bisher kaum bemerkt haben dürften: Das Bundesgericht tritt auf Beschwerden ein, die bei der Anwendung von Bundesgesetzen eine Verletzung der EMRK geltend machen. Denn das Gericht ist der Ansicht, dass sich die Schweiz nicht durch Berufung auf inländisches Recht seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen entziehen dürfe. Eine völkerrechtswidrige Landesnorm könne deshalb im Einzelfall nicht angewendet werden. Dies gelte namentlich, wenn sie im Widerspruch zu den Menschenrechten steht. Einer Volksinitiative, die gegen die EMRK verstösst, könnte somit bei ihrer Umsetzung die Anwendung durch das Bundesgericht versagt bleiben.“
Das bedeutet: Wenn ein konkreter Minarettbau verboten werden sollte und eine Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht wird, kann dieses feststellen, dass die Norm nicht angewendet werden darf, weil sie dem Völkerrecht widerspricht. So kann eine peinliche Situation vermieden werden. Doch die Delegitimierung der direkten Demokratie wird dadurch eigentlich noch offensichtlicher. Denn wie kann eine Norm Bestand haben, deren Anwendung dem Völkerrecht zuwider liefe?