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Ins Herz der Republik

 

Der NSU wollte Deutschland zerstören. Der Prozess um die Taten der Terrorzelle bewirkt nun das Gegenteil: Menschen aus der ganzen Republik arbeiten im Gerichtssaal zusammen an der Aufklärung. Was bisher bekannt ist, zeigt ZEIT ONLINE in einer interaktiven Grafik.

Um Deutschland ins Herz zu treffen, musste der NSU nicht besonders genau zielen. Die mutmaßlichen Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt mussten keinen bestimmten Punkt treffen, sie mussten kein Bauwerk zerstören und keine berühmte Persönlichkeit angreifen. Durch die schiere Anzahl der Taten, die ihnen vorgeworfen werden, erschütterten sie das Land: Sie ermordeten neun Migranten und eine deutsche Polizistin, verletzten knapp zwei Dutzend Menschen bei Anschlägen. „Die NSU-Morde sind unser 11. September“, sagte Generalbundesanwalt Harald Range.

Der deutsche 11. September dauerte elf Jahre von der ersten Tat bis zum Untergang der Vereinigung. Am 9. September 2000 erschossen Mundlos und Böhnhardt laut Anklage den Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg, am 4. November 2011 töteten sie sich nach einem missglückten Banküberfall in Eisenach selbst.

Immer sichtbarer werden die Folgen

Ziemlich genau anderthalb Jahre später begann vor dem Münchner Oberlandesgericht der NSU-Prozess – am 6. Mai 2013. Die Prozesseröffnung liegt genau ein Jahr zurück. Je mehr von den terroristischen Taten und dem Hintergrund der Täter im Saal erörtert wird, desto sichtbarer werden die Folgen der rechtsextremen Serie.


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ZEIT ONLINE hat zahlreiche Orte, die in Zusammenhang mit dem NSU stehen, auf einer Karte eingezeichnet: die Morde, Anschläge und Überfälle, aber auch die Empfänger des zynischen Bekennervideos, Taten aus der Zeit vor dem Untertauchen und viele weitere. Die Punkte überziehen das ganze Land. Mundlos und Böhnhardt setzten bei den Morden auf „das Tatkonzept einer regionalen Streuung der Tatorte“, wie es in der Anklageschrift heißt. Ziel war es demnach, „ein Klima der Angst und Verunsicherung“ zu schaffen.

Das galt auch über den Tod der beiden Schützen hinaus: Nachdem der NSU im November 2011 aufgeflogen war, deckte Beate Zschäpe in einem finalen Propagandaakt die ganze Republik mit der Hassbotschaft der Terrorzelle ein. Sie versandte 15 DVDs mit dem Video an Medien, Parteien und Vereine. Alle sollten erfahren, was der NSU in Deutschland angerichtet hatte.

Vier Verfassungsschutzchefs traten zurück

Nach und nach wurde im Anschluss offenbar, dass die Sicherheitsbehörden dem terroristischen Potenzial wenig entgegenzusetzen hatten – die Chefs von vier Verfassungsschutzämtern traten zurück, die fehlgeleiteten Ermittlungen der Polizei wurden öffentlich angeprangert, Bundeskanzlerin Angela Merkel entschuldigte sich bei den Opferfamilien. Mit dem Ende der Terrorgruppe war der Staat blamiert. Seine Schwächen aufzudecken war der letzte Triumph des NSU.

Der Prozess ist deshalb auch die Antwort eines Landes, das zum Kampf gegen rechten Terror nicht in der Lage war. Langsam und sachlich werden dort die Verbrechen seziert, geleitet vom Vorsitzenden Manfred Götzl, der sich von der Medienhysterie um das Verfahren nicht anstecken ließ. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Vergabe der Zuschauerplätze an Journalisten gerügt hatte, ließ sich Götzl nicht auf Schnellschüsse ein, sondern verschob das Verfahren, um die Sitze komplett neu zu vergeben. Anfangs wurde ihm das als Sturheit ausgelegt. Heute wird der Richter aus nahezu allen Lagern für seine Gründlichkeit gelobt.

So lässt sich nach einem Jahr Verhandlung feststellen, dass der Prozess gut vorangekommen ist – trotz immer wieder aufflammenden Streitereien und Misstrauensbekundungen, insbesondere zwischen den Parteien Nebenklage und Bundesanwaltschaft. Die zehn Mordfälle sind nahezu abschließend behandelt, auch die monatelange Untersuchung von Umfeld und Vergangenheit des Trios steht kurz vor dem Ende. Längst nicht alle Fragen rund um den NSU und seine Helfer sind damit beantwortet – doch Götzl muss sein Verfahren davor bewahren, zum allumfassenden Untersuchungsausschuss zu werden. Als nächstes beschäftigt sich das Gericht mit dem letzten Banküberfall von Mundlos und Böhnhardt, der zum Auffliegen des NSU führte. Im Anschluss wird es um die Anschläge in Köln gehen.

Entlarvende Momente

Das Verfahren verursacht auch enormen logistischen Aufwand. So verteilt, wie die Tatorte liegen, sind auch die Heimatstädte der Prozessteilnehmer. Der Richter ist ein Franke, die Verteidiger sind Kölner, Düsseldorfer, Hannoveraner, Berliner. Und in den Reihen der Nebenklageanwälte ist von Kiel bis München so ziemlich jede Ecke vertreten. Der NSU wollte Deutschland aus den Angeln heben – nun sitzen Menschen aus dem ganzen Land zu Gericht, um die Taten aufzuarbeiten.

Nach einem Jahr ist der Prozess so mit der Bedeutung eines gesamtdeutschen Forums aufgeladen worden. Die Juristen, vor allem die Nebenklageanwälte, leuchten hinein in unterschiedlichste Lebenswelten von Bürgern und ihr Verhältnis zum Rechtsextremismus – das von Unterstützung bis Angst reicht: Da ist das frühere Szenemitglied, das im Erzgebirge aufgewachsen ist und gleichgültig sagt: „Da oben finden Sie keinen, der nicht rechts eingestellt ist.“ Dann die Nürnberger Zeugin, die nicht wagt, über einen Mord auszusagen, weil sie Angst hat, „dass mich einer wegmacht“.

Auch das Verhältnis von Zeugen zu Zuwanderern wird immer deutlich. Manche, wie der Jenaer Neonazi André K. tragen ihre Gesinnung offen zur Schau – so nannte K. „die Errichtung einer multikulturellen Gesellschaft“ ein „Verbrechen“. Bei anderen schwingen unüberhörbar die Vorurteile mit – etwa bei einem Polizisten, der angesichts von Fotos des Geschäfts und der Wohnung eines Opfers eine „gewachsene Unordnung“ attestierte, nachdem er „für Wohnungen von Türken nicht unüblichen Nippes“ gefunden hatte.

Solche entlarvenden Momente sind nicht selten im Verfahren. Immer wieder geht es um die Beziehung zwischen Deutschen und Migranten, obwohl ja eigentlich nur über Schuld oder Unschuld der Angeklagten entschieden werden soll. Jeder, der den Prozess verfolgt, kann sich selbst fragen, ob er den Klischees aufgesessen ist. Ob ihn die schon routinemäßig geschilderten Ermittlungsfehler wütend machen. Und ob ihn der offensichtlich nach wie vor starke Rechtsextremismus beunruhigt.

Noch ein, vielleicht zwei Jahre wird der Prozess andauern. Deutschland hat Zeit, sich selbst zu hinterfragen.