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Rechtsextrem und gewalttätig – der Liebling des Verfassungsschutzes

 

Im NSU-Prozess sagt der V-Mann Piatto aus, der deutliche Hinweise auf die untergetauchten NSU-Terroristen ungenutzt geliefert hatte. Um an seine Tipps zu kommen, scheute sich der Verfassungsschutz nicht, einem verurteilten Gewalttäter zu helfen.

Die Aussage des früheren V-Manns Piatto hätte eine der denkwürdigsten im NSU-Prozess werden können, wäre es nach dem brandenburgischen Verfassungsschutz gegangen. Der Rechtsextreme wäre per Videoübertragung befragt worden, dabei hätte er hinter einer Schattenwand gesessen oder mit falscher Nase und Bart verkleidet in die Kamera gesprochen. Womöglich hätte ein elektronischer Filter seine Sprache auf die Stimmlage eines Schlumpfes hochreguliert. Zum Schutz seiner Identität wäre zusätzlich die Öffentlichkeit während der Aussage ausgeschlossen worden.

Nach scharfer Kritik an dieser Geheimhaltungstaktik nahm die Behörde ihre strengen Auflagen zurück: Ihr ehemaliger Informant Carsten Sz. dürfe nun aussagen wie jeder andere Zeuge auch – im Gerichtssaal, mit Blick auf den Richter, das Publikum im Rücken. Seine Vernehmung ist für heute angesetzt.

Der sogenannte Sperrvermerk hatte deutlich gemacht, wie groß die Bedeutung des früheren V-Mannes für den Landesverfassungsschutz ist. Unter dem Decknamen Piatto hatte er von 1994 bis 2000 Informationen an den Geheimdienst geliefert – und dessen Mitarbeiter mit seinen Tipps in regelrechte Begeisterung versetzt. Wie wertvoll Piattos Meldungen aus der rechtsextremen Szene waren, steht jedenfalls im Rückblick fest: 1998 lieferte er einen Hinweis, mit dem Ermittler möglicherweise auf die gerade untergetauchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten stoßen können. Der V-Mann verriet dem Verfassungsschutz, dass ein Anhänger des militanten Netzwerks Blood & Honour mit den dreien in Kontakt stand und ihnen Waffen liefern sollte.

Aus heutiger Sicht eine unschätzbar wertvolle Information. Als Fahnder damals wegen mehrerer Sprengstoffdelikte nach Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt suchten, ignorierten sie diese jedoch.

Ableger des Ku-Klux-Klans

Auf dem Sperrvermerk hatte der Brandenburger Verfassungsschutz bestanden, weil Carsten Sz. in einem Zeugenschutzprogramm lebt, seit er im Jahr 2000 als V-Mann enttarnt wurde. Grund für die Heimlichtuerei ist allerdings nicht nur die Angst vor Vergeltung aus der rechtsextremen Szene, sondern auch das kriminelle Vorleben Piattos: Der Geheimdienst hatte sich wissentlich auf einen Schwerverbrecher als Spitzel eingelassen. Eine Entscheidung, die moralisch mehr als fragwürdig ist.

Der 1970 geborene Sz. wuchs in Westberlin auf und machte eine Lehre bei der Post. Nachdem er wegen seiner rechtsextremen Gesinnung entlassen wurde, verkaufte er Musikkassetten. In der Neonazi-Szene wurde er eine kleine Berühmtheit, weil er sich als Organisator einen Namen machte. So baute er zu Beginn der neunziger Jahre einen Ableger des Ku-Klux-Klans auf und verbrannte mit seinen Kameraden ein Kreuz. 1991 fanden Polizisten vier Rohrbomben und Sprengstoff in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg.

Ein halbes Jahr später, am 8. Mai 1992, war er in einer Diskothek am Brandenburger Scharmützelsee an einem brutalen rassistischen Angriff beteiligt: Ein aggressiver Mob aus rund 15 glatzköpfigen Jugendlichen prügelte einen nigerianischen Asylbewerber von der Tanzfläche. Einer der Männer traktierte das Opfer mit Schlägen und Tritten und warf den Bewusstlosen schließlich in den See, wo er beinahe ertrunken wäre. Zu hören waren während der ganzen Zeit die Rufe „Ku-Klux-Klan“ und „White Power“. Anführer der Schläger war Sz., der die Parolen immer wieder lautstark vorgab. Für seine Beteiligung wurde er erst 1995 wegen versuchten Mordes zu acht Jahren Haft verurteilt.

Plastiktütenweise Publikationen

Für diese brutale Tat war er bereits 1994 als Verdächtiger in Untersuchungshaft gekommen. Aus dem Gefängnis heraus wandte er sich in einem Brief an den Verfassungsschutz, es kam zu einem Treffen: Sz. wurde als Spitzel engagiert. Seinem V-Mann-Führer Gordian Meyer-Plath, heute Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes, war die Freude über die neue Quelle noch bei seiner Aussage im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags anzuhören: Ein „Quantensprung“ sei die Verpflichtung von Sz. gewesen, Publikationen aus der rechten Szene seien „plastiktütenweise“ auf seinem Schreibtisch gelandet.

Piatto wurde zum Liebling des Verfassungsschutzes. Seine Dienste dankte ihm die Brandenburger Behörde mit Unterstützung im Gefängnis. Zwei Jahre nach dem Urteil wurde Sz. zum Freigänger, seine Quellenführer holten ihn aus dem Gefängnis ab und ließen ihn sich umhören. Von da an flogen in Brandenburg regelmäßig Neonazi-Konzerte auf – gemessen an Piattos Vernetzung in der Szene eine magere Ausbeute. Im August 1998 schickte ihm sein Kamerad Jan W. auf ein Handy des Verfassungsschutzes eine SMS mit dem Text „Hallo, was ist mit dem Bums“. Damit war offenbar die Waffe gemeint, die W. dem NSU besorgen sollte. Konsequenzen des Geheimdienstes gab es aber nicht.

Entrüstung über die Rekrutierungspraxis

1999 wurde Sz. schließlich ganz aus der Haft entlassen, ebenfalls mithilfe des Verfassungsschutzes. Zurück in Freiheit plante er mit Kameraden einen Anschlag mit Rohrbomben auf Linke: Er wollte sich an ihnen rächen, weil sie sein Auto zerstört haben sollen. Als jemand den Verfassungsschutz darüber informierte, endete seine V-Mann-Karriere. Als Spitzel outete Piatto schließlich ein Zeitungsartikel.

Schon zum Zeitpunkt seiner Enttarnung war Entrüstung über die Rekrutierungspraxis des brandenburgischen Geheimdienstes laut geworden. Gordian Meyer-Plath, der Quellenführer, sagte dazu im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags, er sei damals noch nicht erfahren genug gewesen, um den Fall moralisch bewerten können. Heute, sagte er, würde er jemanden wie Sz. nicht mehr engagieren.