Schon vor dem ersten Mord verübte der NSU möglicherweise einen Bombenanschlag in Nürnberg. Ein ausländerfeindliches Motiv schlossen die Ermittler aus.
Der Knall hat ein Loch in die Decke gesprengt. Auf dem Boden der Herrentoilette liegen Kunststoffteile, auch den Handtuchhalter hat es zerrissen. In der Luft liegt der strenge Geruch gezündeter Chinaböller.
In einer Nürnberger Kneipe namens Sonnenschein übernimmt der Polizist Peter O. am 23. Juni 1999 einen Fall, den er nicht aufklären wird: Es geht um eine Bombe, die im Tubus einer Taschenlampe versteckt war und den 18-jährigen Putzmann Serkan Y. verletzt hat. Nach einigen Monaten wird die Akte geschlossen.
Mehr als ein Jahrzehnt später gibt es ein deutliches Indiz auf die Urheber des Sprengsatzes: Die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt könnten ihn damals im Sonnenschein abgelegt haben. Stimmt das, wäre der Nürnberger Fall der erste terroristische Anschlag des NSU und nicht mehr der Mord an dem Blumenverkäufer Enver Simsek vom September 2000. Polizist O., damals tätig als Ermittler des bayerischen Landeskriminalamts, sagt darum am letzten Tag vor der Weihnachtspause als Zeuge im Münchner Prozess aus.
Den Hinweis auf die möglichen Täter hatte der Mitangeklagte Carsten S. in seiner Aussage zu Prozessbeginn geliefert. S. gestand, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei einem Treffen um die Jahrtausendwende die Pistole übergeben zu haben, mit der die beiden mutmaßlich neun Menschen erschossen. Unter Tränen erzählte er, bei der Verabredung in Chemnitz hätten die beiden Uwes ihm erzählt, sie hätten in Nürnberg „eine Taschenlampe hingestellt“. Er habe sich erst keinen Reim darauf machen können – später sei ihm der Gedanke gekommen, Mundlos und Böhnhardt könnten Sprengstoff in die Lampe eingebaut haben.
Serkan Y., das Opfer des bis heute nicht aufgeklärten Anschlags, putzte damals gelegentlich im Sonnenschein, manchmal schenkte er auch Getränke aus. Am Nachmittag des 23. Juni fand er im Vorraum der Herrentoilette eine Taschenlampe hinter dem Abfalleimer. Er konnte sich nicht erklären, wie sie dorthin gekommen war und schaltete sie ein. Kurz hörte er ein Surren, als ein Glühdraht das Schwarzpulver entzündet, das in ein Rohr im Inneren gefüllt ist. Y. sah einen blauen Blitz, dann schleuderte ihn die Wucht der Explosion an die Wand.
Seine Mutter fuhr den Verletzten ins Krankenhaus, er hatte blutende Schnittwunden im Gesicht, am Oberkörper und den Armen. Möglicherweise lebensrettend war für ihn, dass nicht das gesamte Schwarzpulver zündete. Andernfalls wäre die Sprengkraft wesentlich höher gewesen: „Das Rohr wäre zerlegt worden, was schwerwiegende Verletzungen bis zur Todesfolge hätte verursachen können“, mutmaßt Polizist O.
Nun, da der Fall im Gerichtssaal geschildert wird, werden auch die Parallelen zu einer anderen NSU-Tat offensichtlich: dem Anschlag in der Kölner Probsteigasse von 2001. Opfer wurde damals die Tochter eines iranischen Geschäftsinhabers. Auch damals war die Bombe getarnt, nämlich in einer Stollendose versteckt. Das Funktionsprinzip war analog: Ein Glühdraht zündete Schwarzpulver, dessen Explosion dem Opfer schwerste Brandverletzungen zufügte.
Auch die Ermittlungen in Nürnberg verliefen so, wie es praktisch immer im Anschluss an die rassistischen Taten der Fall war: Ein ausländerfeindliches Motiv schloss der Staatsschutz aus. Tatsächlich schrieben die Polizisten vor Ort bereits in ihrer ersten Meldung an das Landeskriminalamt, ein politischer Hintergrund der Tat sei ausgeschlossen. Stattdessen hörten sich die Ermittler sehr genau an, was etwa Y.s Arbeitgeber vermutete: Dass das Opfer eine Mitschuld trage, weil er in irgendetwas verwickelt sei oder die Bombe gar selbst gebaut habe. Nachteilig war für Y., dass er der Polizei wegen kleinerer Drogendelikte auffällig geworden war.
„Auf den vagen Hinweis hin wurde das Opfer selbst verdächtigt“, kritisiert der Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler. Alle anderen Hinweise hätten die Ermittler ignoriert – etwa, dass die Zeugen überhaupt keine möglichen Feinde von Y. oder dem Pächter der Gaststätte benannten.
Die Opferanwälte sehen im Taschenlampen-Komplex zudem einen weiteren Beweis für die Glaubwürdigkeit des Angeklagten S. Ohne seine Angaben wäre der Fall wohl nie dem NSU zugeordnet worden, gibt Daimagüler zu bedenken. „Das macht mich unruhig, weil es vor Eröffnung des Prozesses hieß, die Sache sei ausermittelt.“
Bisher ist das Sprengstoffdelikt nicht Teil der Anklage. Die Bundesanwaltschaft prüft noch immer, ob die Liste der Vorwürfe gegen Zschäpe wegen Mittäterschaft erweitert werden soll.
Dennoch ist völlig unklar, wie verfänglich der Fall für die Hauptangeklagte ist. Denn Carsten S. hatte in seiner Aussage noch mehr vom geheimen Treffen erzählt, bei dem er von der Taschenlampe erfuhr: Kurz darauf sei Zschäpe mit an den Tisch gekommen. Die Uwes hätten daraufhin etwas wie „Psst, die darf das nicht hören“ gesagt. Wenn die beiden Männer die Bombe platziert hatten – hielten sie Zschäpe daraufhin aus der Sache heraus? Oder sollte die lediglich nicht merken, dass die Uwes über eine Tat des Trios plauderten?