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Jahrelang im Verdacht

 

Im NSU-Prozess haben erstmals Opfer des Kölner Nagelbombenanschlags von 2004 ausgesagt. Sie mussten mit drastischen Verletzungen leben – und mit Anschuldigungen der Polizei.

Lange Zeit hat sie niemand gehört. Sie waren Opfer von Verdächtigungen und Gerüchten. Standen im Verdacht, sich selbst die Schmerzen zugefügt zu haben, unter denen sie noch heute leiden: die Zeugen, die den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 miterlebt haben.

Selbst im NSU-Prozess wurden die Kölner Zeugen auf die lange Bank geschoben: Mehr als anderthalb Jahre hat es gedauert, bevor sie in München aussagen durften. Am heutigen Dienstag sagten nun diejenigen aus, die unter den Betroffenen die schwersten Verletzungen erlitten hatten.

Denn die Wirkung der Bombe war verheerend: Mit mehr als 700 Nägeln bestückt war der Sprengsatz, den laut Anklage Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf einem Fahrrad angebracht und vor einem Friseursalon in der Keupstraße abgestellt hatten – einem der wichtigsten Zentren des türkischen Lebens in Köln. Die Nägel bohrten sich noch 150 Meter vom Sprengsatz entfernt in jedes Hindernis, noch in 250 Metern Entfernung barsten Fensterscheiben. 22 Menschen wurden damals verletzt.

In dieser und der nächsten Woche hört das Münchner Oberlandesgericht die Opfer und die Ärzte, die sie behandelt haben. Ein Protokoll der Aussagen, die die Folgen der rassistischen Tat dokumentieren.

Sandro D. (34), arbeitssuchend, aus Köln
Kurz vor 16 Uhr war ich mit meinem Freund Melih in Mülheim unterwegs. Wir haben unser Auto auf der Keupstraße abgestellt und uns einen Döner geholt. Auf dem Rückweg vor dem Friseurladen ist es dann passiert. Das fühlte sich an, als hätte mir jemand von hinten die Beine weggeschossen. Überall war Qualm. Neben mir sah ich Melih auf dem Boden. Ich brüllte seinen Namen – ich wusste nicht, ob er lebt oder tot ist. Ich konnte aber nichts hören, weil meine Trommelfelle zerstört waren. Um mich herum standen Menschen, sie zogen mir mein brennendes Oberteil vom Leib.

Später habe ich erfahren, dass wir bei der Explosion genau vor dem Friseurladen waren, direkt an der Bombe. Alles war ohne Geräusche, wie in Zeitlupe. Es war wie ein Stummfilm. Von meinen Verletzungen habe ich nur einen schwarzen Punkt an meinem Bein wahrgenommen und meinen Daumen – da schaute der Knochen raus.

Im Krankenwagen rief ich meine Mutter an, dann war ich weg. Ich bin erst zwei Tage später wieder zu mir gekommen, da konnte ich auch wieder etwas hören.

Ich war dann wochenlang im Krankenhaus, am Anfang auf der Intensivstation. Ich hatte Nägel in den Beinen und am Rücken. Ich durfte nicht mit Melih sprechen, weil es hieß, wir hätten das Fahrrad dorthin gestellt und die Bombe sei zu früh explodiert. Ich wollte wissen, was mit Melih war. Irgendwann hat man uns dann von Intensivstation zu Intensivstation telefonieren lassen.

Diese Sache nagt an einem. Vor allem der Gedanke, dass alles so schnell zu Ende sein kann. Dabei denke ich dann an meine beiden Kinder. Erst habe ich keine psychiatrische Therapie gemacht. Es gab ja keine Täter. Weil man nichts abschließen konnte, habe ich versucht, das zu vergessen. Als es dann hieß, es gebe einen Täter, musste ich mich der Sache stellen. Die richtige Therapie fängt erst nach dieser Aussage an.

Dietmar P. (59), behandelnder Arzt von Sandro D.
Herr D. kam am 9. Juni 2004 mit dem Rettungsdienst in unsere Notaufnahme. Er hatte eine große Risswunde an der linken Schulter, mehrfache Fremdkörpereinsprengungen in Form von zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln, Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht und am linken Arm. Am schlimmsten war, dass der rechte Oberschenkelknochen durch einen Nagel gerissen war. Vier Nägel wurden ihm entfernt. Die Brandwunden mussten durch Hauttransplantationen behandelt werden. Am linken Oberarm musste immer wieder abgestorbenes Gewebe abgetragen werden.

Melih K. (31), Justizangestellter aus Köln
Ich war mit Sandro auf der Keupstraße, als es den Knall gab. Licht aus, Licht an, und dann ist man auf einmal in Texas – alles in Schutt und Asche. Mein linker Arm, meine Haare und meine linke Gesichtshälfte brannten. Die Leute um mich herum schütteten Wasser über mich.

Im Krankenhaus wurde ich operiert, hatte immer wieder Arztbesuche und Reha-Aufenthalte. Ich hatte schwere Verbrennungen, auch an den Beinen. Wenn ich den Fuß bewegt habe, habe ich gesehen, wie sich die Sehnen und die Adern bewegt haben. Das war wie bei Körperwelten. Auch meine Gesichtszüge waren kaum zu erkennen. Als ich wachgeworden bin, lag ich da wie eine Mumie.

Wenn ich mich heute umziehe, sehe ich jedes Mal die Narben. Ich hatte jahrelang Probleme beim Einschlafen, heute gehe ich zur Psychotherapie. Viele Jahre lang habe ich nichts gemacht – ich musste meine Ausbildung abbrechen, weil ich nicht mehr geeignet war. Dann habe ich mich zu Hause eingeschlossen. Erst war ich beim Arbeitsamt, dann habe ich mich abgemeldet, bevor ich Hartz-IV-Empfänger geworden wäre. 2011 habe ich dann eine Umschulung zum Bürokaufmann begonnen und 2013 abgeschlossen. Anfang dieses Jahres habe ich eine Anstellung bekommen.

Ich habe nicht sofort erfahren, dass es sich um eine Bombe handelte. Als die Polizei mich fragte, wer für den Anschlag verantwortlich sein könnte, habe ich die rechte Szene dahinter vermutet. Das ist ja offensichtlich. Wer würde so etwas sonst am hellichten Tag machen, wo es jeder sehen kann. Dafür muss man kein Ermittler sein.