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Verängstigt, aber nicht vertrieben

 

Der Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße von 2004 hat viele Opfer schwer erschüttert. Als Trauma schildern sie jedoch auch drastische Vernehmungsmethoden der Polizei.

Der Knall lässt die Scherben des Schaufensters durch den Friseursalon fliegen, sofort ist alles voller Rauch. Fatih K. schaut zur Decke, er glaubt, eine Gasleitung sei geplatzt. Der Raum füllt sich mit Rauch, nur das Licht eines Fensters an der Rückwand schimmert. Dorthin flüchten sich alle, sie steigen hindurch in den Hinterhof. „Ich war wie in Trance, wie im Film“, erzählt K. Ein Mann reicht ihm ein Handtuch, er blutet am Kopf. Auf der Straße findet er schließlich seine Mutter. Sie war einkaufen, während er auf einen Haarschnitt wartete.

Ursache der Explosion war ein mit Nägeln gespickter Sprengsatz. Der 29-jährige Bürokaufmann ist einer von 22 Verletzten des Anschlags in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004. Direkt vor dem Salon detonierte die auf einem Fahrrad montierte Bombe – abgestellt haben sollen sie die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Gleich neun Zeugen der grausamen Tat hat das Oberlandesgericht München am Mittwoch in den NSU-Prozess geladen – zu hören sind neun Schicksale von Menschen, die bis heute mit den Folgen des Anschlags leben müssen. Am Vortag hatten bereits vier andere Betroffene ausgesagt, mindestens zwei Wochen dauert die Vernehmung der Armada an Zeugen.

Quälende Erinnerungen, das Leben „unlebbar und wertlos“

Wie alle, die sich während der Explosion gegen 16 Uhr des warmen Sommertags in der Nähe der Bombe aufhielten, trug Fatih K. eine Verletzung an den Ohren davon. Drei Tage lang hörte sich alles für ihn dumpf an. Doch für ihn, der damals 18 Jahre alt war, sei der Anschlag mittlerweile ein gutes Stück weg, andere Schicksalsschläge in seinem Leben hätten ihm stärker zugesetzt.

Andere Zeugen quält die Erinnerung bis heute. Der 9. Juni 2004 habe ihr Leben „unlebbar und wertlos“ gemacht, sagt die Frau aus dem Grußkartengeschäft neben dem Salon. Er flüchte sich immer in sein Geschäft, wenn er einen Fahrradfahrer auf der Keupstraße sehe, sagt der Juwelier von gegenüber. Bei einem der Friseure hat sich das gespenstische Bild eine Manns eingebrannt, der sein Fahrrad vor dem Salon abstellte.

Noch einprägsamer wirken allerdings die reinen Tatsachenschilderungen, die Zeugen mit dem Abstand von über zehn Jahren beinahe tonlos vortragen. Attila Ö. wartete ebenfalls beim Friseur. Nach der Explosion sagte ihm jemand auf der Straße, dass ein Nagel in seinem Hinterkopf stecke – und zog ihn heraus.

„In der Hölle angekommen“

Ö. war mit seinem Freund Abdullah Öz. in das Geschäft gekommen. Auch der dachte zuerst an eine Gasexplosion. Doch die Auswirkungen waren schlimmer: Öz. sah den Rauch und nahm den Geschmack von Schwarzpulver wahr. „Ich habe gedacht, ich bin jetzt in der Hölle angekommen“, erzählt er.

An der Aussage des 38-Jährigen lässt sich der Zorn ablesen, der sich seit dem Anschlag in ihn gefressen hat – und dieser richtet sich in erster Linie gegen die Polizei, die ihn und seinen Freund noch am selben Tag zur Vernehmung ins Präsidium kommandierte. Erst musste er seine Kleidung abgeben, dann eine Speichelprobe. „Ich habe gesagt: Nein, ich bin doch kein Vergewaltiger. Aber dann ist es dazu gekommen“, sagt Öz.

Auch Attila Ö. musste sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. In diesem Zustand, sagt er, sei er sechs Stunden lang bis nach Mitternacht vernommen worden. Laut Polizeiprotokoll dauerte die Befragung allerdings nur eine Stunde. „Die haben mich wie einen Beschuldigten behandelt und gefragt, ob ich Leute aus dem Rotlicht- oder dem Drogenmilieu kenne“, erinnert sich der 40-Jährige. Als er nach Hause kam, hätten gleich andere Ermittler vor der Tür gestanden und ihn sprechen wollen.

Ein „kölsch-türkisch-deutscher Junge“

Ähnliches Szenario bei Fatih K.: Ob er etwas von der kurdischen Untergrundorganisation PKK wisse, ob es kriminelle Aktivitäten auf der Keupstraße gebe, ob er Kontakt zu Kriminellen habe.

An jedem Vernehmungstag tauchen neue Beispiele dafür auf, wie die Polizei nach der Tat Opfer bedrängt haben soll, mit übereilten Schuldhypothesen auf die Zeugen losging. Im Fall der Nagelbombe richteten sich die Verdächtigungen nicht nur gegen eine Familie, sondern gegen einen ganzen Straßenzug. Vor Gericht entsteht so ein hässliches Bild der Ermittler – die in allen NSU-Fällen nach einem ähnlichen Schema vorzugehen schienen.

Die Entschuldigung für solche Unterstellungen folgte erst nach der Enttarnung des NSU im Jahr 2011, Opfer aus der Keupstraße wurden vom Bundespräsidenten empfangen. Doch so, wie sie heute von ihren Erlebnissen bei der Polizei sprechen, klingt es nicht, als hätten sie die Entschuldigung angenommen.

Vielmehr hat sich die Wut in eine Art Trotzhaltung gewandelt – und den Willen, sich nicht von der Angst seinen Platz im Leben nehmen zu lassen. Das hat Abdullah Öz. seit der Geburt in Köln verbracht. Ein „kölsch-türkisch-deutscher Junge“ sei er. Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler fragt ihn, ob er sich mal überlegt habe, die Stadt zu verlassen. Öz. stockt kurz. Dann antwortet er: „Wieso sollte ich das?“