Im NSU-Prozess steht die Arbeit der Opfervertreter im Zwielicht: Hat ein Anwalt versucht, einen Zeugen mit falschen Angaben zur Nebenklage im Terrorverfahren zu drängen?
Franz Peter S. erlebte den Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 in seinem Auto. Die Explosion drückte das Dach des Wagens ein, mit dem der technische Angestellte gerade auf den Garagenhof gegenüber gefahren war. Den Knall, erzählt S. im kölschen Singsang, überstand er unverletzt. Von Spätfolgen weiß er nichts zu berichten. Auch seine Schwiegermutter, die im ersten Stock des Hauses wohnte, trug keine Blessuren davon.
Das klang vor fast zwei Jahren, als das Münchner Oberlandesgericht im Mai 2013 vom Fall des Herrn S. erfuhr, noch ungleich dramatischer: Der Zeuge sei „posttraumatisch belastet“, er leide bis heute unter Angstzuständen, auch seine Frau sei betroffen. So hieß es in einem Schreiben des Frankfurter Anwalts Ferhat Tikbas, der Familie S. als seine Mandanten für die Nebenklage des NSU-Prozesses anmeldete. Er vertritt vier Geschädigte im Verfahren, darunter Hinterbliebene des Mordopfers Abdurrahim Özüdoğru, der 2001 in Nürnberg starb. An diesem Tag ist er nicht im Gericht.
Damit hätte sich Franz Peter S., der heute als Zeuge im Verfahren aussagt, in die Riege der fast 90 Nebenkläger einreihen können. Diese Menschen, Geschädigte und Hinterbliebene von Mordopfern, begleiten den Prozess, wenn auch meist nicht persönlich, sondern über ihre Anwälte. Sie können Anträge stellen und Zeugen befragen. Für viele Betroffene ist die Nebenklage ein wichtiges Instrument der Aufarbeitung – denn ihnen geht es um die Hintergründe der Taten, die sie einen Angehörigen oder ein Stück ihrer Lebensqualität gekostet haben.
Das könnte Franz Peter S. allerdings nicht von sich behaupten. Richter Manfred Götzl fragt den Zeugen, ob er Anwalt Tikbas mit seiner Vertretung beauftragt habe. „Nein, dieser Anwalt ist an uns herangetreten“, antwortet der Zeuge. Das habe seine Familie jedoch „von vornherein abgelehnt“. Vielmehr habe Tikbas immer wieder angerufen und versucht, ihn zur Nebenklage zu drängen. Doch eine Vollmacht habe er dem Juristen nie gegeben. Der meldete sich trotzdem beim Gericht, nahm den Antrag jedoch zurück, nachdem S. sich beschwert hatte.
Bekannt ist, dass Anwälte nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 aggressiv unter Bewohnern der Keupstraße um Mandate warben. In der Nebenklage winken für die Anwälte schließlich ein aus der Staatskasse bezahltes Honorar und mit dem über Jahre dauernden Prozess ein langfristiges Engagement. Im besten Fall können sie auch ein Schmerzensgeld für ihre Mandanten erstreiten.
Doch muss die Institution der Nebenklage auch für Menschen offen sein, die nur am Rande mit einer der brutalen NSU-Taten zu tun hatten? Natürlich gibt es keine richtigen und falschen Opfer. Es macht aber sehr wohl einen Unterschied, ob ein Schaden in der Kfz-Werkstatt oder im Krankenhaus behoben werden muss.
Und es macht auch einen Unterschied, ob ein Nebenkläger erst durch einen Anwalt zur Teilnahme am Prozess gedrängt wird. Wie wirkt das auf die Opfer, die in diesem Prozess um ihre Rehabilitierung nach Verdächtigungen durch die Polizei kämpfen? Was denken die Anwälte, die unter großen Mühen die Strukturen hinter dem NSU aufdecken? Kollegen der Nebenklage halten sich fürs Erste bedeckt.
Dabei dürfte auch ihnen klar sein, dass durch zweifelhafte Mandate die Nebenklage entwertet wird – und dass die Verteidiger nach einem Schuldspruch versuchen könnten, das Urteil anzugreifen, weil aus gesetzlicher Sicht Unbeteiligte daran mitgemischt haben.
Anwalt Tikbas kann sich die Behauptungen nicht erklären. Ihm fehlten die Worte, sagt er gegenüber ZEIT ONLINE. Demnach habe er keineswegs versucht, ein Mandat an sich zu reißen: Familie S. habe sich bei ihm gemeldet und darum gebeten, als Nebenkläger im Prozess vertreten zu werden. Tikbas hatte bereits zuvor Mandate aus der Keupstraße angenommen. Dabei habe ihm Franz Peter S. auch von Symptomen wie der Belastungsstörung erzählt. Andernfalls, argumentiert der Anwalt, hätte er dem Gericht ja nicht so detailliert die Folgen für den Mandanten schildern können.
Dass der keine Vollmacht unterschrieb, bestreitet auch der Jurist nicht. S. habe schlicht seine Meinung geändert und das Dokument nicht mehr unterzeichnen wollen. Daraufhin habe er den Antrag an das Gericht zurückgenommen. Formaljuristisch lief offenbar alles nach Vorschrift.
Wer recht hat, ist nicht mehr zu klären. Im Raum bleibt die Frage: Sitzen im NSU-Prozess Zeugen, die keineswegs so stark an den Folgen des Anschlags leiden wie behauptet? Die Verteidiger dürften großes Interesse haben, darauf eine Antwort zu finden.
Außerdem beschäftigte sich der Staatsschutzsenat am Donnerstag mit dem Video, das Beate Zschäpe auf ihrer Flucht aus Zwickau am 4. November 2011 an mehr als ein Dutzend Empfänger verschickt haben soll. Auf der DVD werden die zehn Morde und die beiden Bombenanschläge dargestellt, die heute dem NSU zugeschrieben werden. Allerdings sind weder Beate Zschäpe noch ihre Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt darauf zu sehen.
Eine Ermittlerin des Bundeskriminalamts lieferte nun Hinweise, die darauf deuten, dass das NSU-Trio den Film selbst hergestellt hat. Auf einer CD aus dem Schutt der niedergebrannten Zwickauer Wohnung der drei fanden sie Dokumente, die Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt offenbar in ihrer Freizeit angelegt hatten – darunter Vereinbarungen für eine Wette, in der es darum ging, wer am meisten Gewicht verlieren kann. Der Verlierer musste demnach nicht nur die Wohnung putzen, sondern auch 200 Videoclips schneiden. Die Bundesanwaltschaft wertet die Formulierung als Bezug auf den Schnitt des Bekennervideos.