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Kein Opfer ohne Narben?

 

Beate Zschäpes Verteidiger fordern, eine Nebenklägerin aus dem NSU-Prozess auszuschließen. Womöglich wollen sie mit dem Antrag vor allem einen kritischen Anwalt loswerden.

Die Frage, wer sich als Opfer eines hinterhältigen Bombenanschlags bezeichnen darf, ist seit Wochen der Fixpunkt im Münchner NSU-Prozess. Sie frisst sich tief in das Prozessgeschehen und entlockt denen, die daran teilnehmen, Äußerungen in kaum gekannter Schärfe. Von „impertinenten und geschmacklosen Unterstellungen“ sprechen die Verteidiger der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, das Verhalten eines Anwalts nennen sie „unwürdig“.

Auslöser ist die Untersuchung des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße vom Juni 2004. Damals sollen die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ein Fahrrad mit einer Schwarzpulverbombe vor einen Friseursalon geschoben haben. Die Bombe war mit über 700 Nägeln gespickt. Viele Menschen, fast ausnahmslos mit türkischem Migrationshintergrund, wurden schwer verletzt. Sie erlitten Verbrennungen und Gehörschäden und leben seitdem mit der quälenden Erinnerung an das Ereignis.

Die Ermittler haben 22 Verletzte aufgelistet. Die meisten davon nehmen als Nebenkläger am Prozess teil und sind durch einen Anwalt im Oberlandesgericht in München vertreten. Es ist nicht sicher, ob diese Zahl stimmt, denn nicht bei allen sind die Folgen so deutlich sichtbar wie bei den Opfern mit Brandwunden.

Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer forderte nun, die Nebenklägerin Sermin S. aus dem Verfahren auszuschließen, zudem ihren Anwalt, den Kieler Alexander Hoffmann. Sermin S. sei demnach Zeugin des Anschlags gewesen, aber keine Geschädigte. Zschäpes Verteidiger beanspruchen für sich, die Frage beantworten zu können, wer als Opfer gilt.

Einen Antrag dieser Art hat es im NSU-Verfahren bisher nicht gegeben. Derart offen ist die naturgemäße Konkurrenz zwischen Verteidigung und Nebenklage noch nie hervorgetreten. Es ist die Eskalation eines Konflikts, in dem es auch um Macht und Präsenz geht.

Die damals hochschwangere Sermin S. war in ihrer Wohnung im ersten Stock, als die Bombe 50 Meter weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite explodierte. Allerdings hielt sie sich dabei offenbar im nach hinten gelegen Wohnzimmer auf. Eine körperliche Verletzung hatte sie nicht. Einige Zeit darauf gebar sie ihr Kind drei Wochen zu früh. Im Jahr 2012, acht Jahre nach dem Anschlag, erlitt sie eine Panikattacke in einem Kino. Einem Psychiater berichtete sie, dass sie regelmäßig an Ängsten und Schmerzen leide, sie fürchte sich vor engen Räumen, vor Menschenmengen, vor der Autobahn.

Dem Psychiater, der sie daraufhin behandelte und der vergangene Woche vor Gericht aussagte, erzählte sie erst in der sechsten oder siebten Sitzung von dem Anschlag, nachdem er sie danach gefragt hatte. Während der Befragung durch die Verteidigung nannte der Psychiater schließlich den Krebstod der Mutter und die schwierige Kindheit als Auslöser für die Depressionen der Zeugin. Ob der Anschlag Grund für ihre Panikstörung sei, konnte er nicht sicher sagen.

Wurde Sermin S. auf bloßen Verdacht hin zur Nebenklage zugelassen, zudem gegen den Willen der Bundesanwaltschaft, die sich ebenfalls gegen diese Zeugin aussprach? Sie komme „unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt als Verletzte eines versuchten Mordes in Betracht“, bilanzierte Anwalt Heer.

Anders sieht das selbstverständlich der Vertreter von Sermin S., Alexander Hoffmann. „Rechtlich kann das keinen Erfolg haben“, sagt er im Anschluss an die Sitzung. Denn die Anklage wertet den Anschlag als mehrfachen versuchten Mord. Frau S. wäre den Tätern demnach als Todesopfer willkommen gewesen. Dem Gericht genügte das als Argument, sie in den Prozess zu laden.

Hoffmann vermutet eine andere Motivation hinter dem Antrag: „Hier geht es nicht um eine sachliche Entscheidung, sondern darum, einen unbequemen Vertreter auszuschließen.“ Abwegig ist diese Vorstellung nicht. Weil Hoffmann nur eine Mandantin vertritt, würde deren Rausschmiss auch das Aus für ihn im Prozess bedeuten. Er hatte sich in der Vergangenheit immer wieder zu Wort gemeldet, als das Thema Keupstraße noch in weiter Ferne lag.

Hoffmann zählt im Prozess zu den engagiertesten Anwälten, zu denen, die regelmäßig beantragen, neue Zeugen aus der rechten Szene zu laden. Mehrfach hatte er betont, dass es ihm darum gehe, das Netzwerk möglicher Helfer des NSU-Trios zu beleuchten. Solchen Forderungen traten Zschäpes Verteidiger stets mit der Begründung entgegen, das Gericht müsse eng am Vorwurf der Anklage bleiben, statt die rechte Szene zu sezieren. Doch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl gab den Anträgen meistens statt.

Nun muss Richter Götzl entscheiden, ob Hoffmann bleiben darf. Am Vortag hatte er einem Ermittler des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts aufgetragen, den Tatort anhand von Karten und Fotos neu zu vermessen, um zu bestimmen, bis zu welcher Hausnummer in der Keupstraße die Gefahrenzone rund um die Nagelbombe reichte. Es war ein Signal, dass er den Ausschluss-Antrag der Verteidiger ernst nimmt.