Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Gute Chancen für Carsten S.

 

Jung, leichtgläubig, verklemmt: So sieht sich Carsten S., der dem NSU eine Pistole überbracht haben soll. Doch ein Gutachter glaubt, dass der Angeklagte mehr war als ein naiver Mitläufer.

Carsten S. war ein junger Mann, als er den wohl größten Fehler seines Lebens machte. 19 bis 20 Jahre war er alt, als er seinen Nazi-Kumpels Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt eine Pistole in die Hand drückte, Modell Ceska 83, Kaliber 7,65 Millimeter. Mit der Waffe, die S. als Kurier überbrachte, sollen Mundlos und Böhnhardt neun Menschen erschossen haben – es war die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds.

Im NSU-Prozess ist S. wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Zu Beginn des Verfahrens gestand er die Übergabe. In seiner mehrtägigen Befragung zeichnete er den Weg vom heimlichen Homosexuellen, der Ende der 1990er Jahre in die rechtsextreme Szene von Jena einstieg, die NSU-Gruppe aus Beate Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt kennenlernte, sich schließlich zu seiner Sexualität bekannte und ausstieg. Kurz zuvor, um die Jahrtausendwende, hatte er die Pistole in einem rechten Szenegeschäft gekauft und nach Chemnitz transportiert.

Ist der 35-jährige S. für seine Tat als Jugendlicher zu bestrafen? Unter den fünf Angeklagten ist er nicht nur der einzige, der umfassend gestanden hat – auch wegen seines jungen Alters ist für ihn ein wesentlich milderes Urteil möglich, womöglich eine Bewährungsstrafe. Das Jugendstrafrecht kann auch für Erwachsene zur Anwendung kommen, wenn der Delinquent zur Tatzeit höchstens 21 Jahre alt war – das ist für S. der Fall. Doch es gibt eine weitere Voraussetzung: Das Gericht muss der Überzeugung sein, dass S. damals noch nicht auf dem Entwicklungsstand eines Erwachsenen war.

Um die Frage zu klären, die für S. den Unterschied zwischen Haft und Freiheit machen könnte, sagt am Mittwoch der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf aus. Der 62-Jährige ist einer der bekanntesten Gutachter Deutschlands. Hunderte Male verließen sich Strafrichter auf seine Einschätzung, etwa im Prozess gegen den Kindsmörder Magnus Gäfgen.

Im Münchner Gerichtssaal fächert Leygraf die Gedankenwelt von Carsten S. auf – so gut das fast zwei Jahrzehnte später noch möglich ist. Dreimal hatte er den Verdächtigen 2012 in der Untersuchungshaft besucht, später beobachtete er ihn im Prozess. S., sagt der Gutachter, sei ein Mensch, „der sich leicht von anderen beeindrucken lässt“ und sich schlecht durchsetzen könne. So hatte sich auch S. selbst stets beschrieben: als ahnungslosen Mitläufer, der Respekt hatte vor den Älteren in der rechtsextremen Szene und machte, was man ihm sagte – etwa, eine Pistole von A nach B bringen.

Doch der Gutachter glaubt nicht an eine Geschichte, in der S. das eigentliche Opfer ist, durch die Umstände zu einer kriminellen Handlung getrieben. Denn der Angeklagte neige zum „Bagatellisieren“, resümiert Leygraf, er habe den organisierten Rechtsextremismus als „jugendliche Freizeitgestaltung“ beschrieben. Zu spüren war dies, als S. selbst aussagte: Aussagen zur Ideologie der Nazi-Szene machte er erst, als ihn der wadenbissige Staatsanwalt Jochen Weingarten darauf festnagelte.

Was aber trieb den schüchternen Teenager aus Jena in die Arme der Szene? Laut der Expertise zieht sich S.‘ Sexualität wie ein roter Faden durch sein Schicksal: In der Berufsschule verliebte er sich in einen Neonazi – traute sich aber noch lange nicht, zu seiner Neigung zu stehen. Damit war er offenbar der perfekte Anwärter für die Szene, in deren Geflecht Homosexualität unterdrückt wurde und die gleichzeitig voller Kerle war.

Besonders einer hatte es S. angetan: Uwe Böhnhardt. Die erste Begegnung mit ihm, dem drei Jahre älteren, beeindruckte ihn offenbar schwer. „Da sind ihm fast die Tränen in die Augen gekommen, als er von der Szene berichtet hat“, erinnert sich Leygraf. Natürlich ist es eine Demütigung für S., dass sein Sexualleben detailreich in einem Gerichtssaal resümiert wird. Doch der Angeklagte und seine Anwälte hatten sich entschieden, mit offenen Karten zu spielen.

Allerdings: Die Entwicklung einer sexuellen Orientierung und jugendliche Rebellion lässt Leygraf nicht als alleinige Erklärung gelten. Doch lässt er offen, was es dann war, das S. über Jahre ein Bekenntnis zum Neonazismus ablegen ließ.

Jedenfalls wertet der Gutachter den Angeklagten keineswegs als naiven Nachplapperer. Denn S. übernahm den Vorsitz einer Jugendgruppe der NPD, später nahm er an einem Kongress der Jungen Nationaldemokraten teil, obwohl er bereits seinen Ausstieg aus den rechten Kreisen geplant hatte. Er habe mitgemacht, weil er sich den Jugendlichen gegenüber verantwortlich gefühlt habe, sagte S. Das habe Reife erkennen lassen, sagt der Psychiater heute. Zudem war es S., der mit den 1998 untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe aus Telefonzellen Kontakt hielt. Man hielt ihn offenbar für eine sichere Bank.

Nicht lange nach der Waffenübergabe entschied sich S. aber, die Brücken zu den alten Freunden abzubrechen. Er outete sich vor engen Freunden als schwul, machte sein Fachabitur nach und zog zum Studium nach Düsseldorf. „Sein Ausstieg entzündete sich erst mal an der Homosexualitätsproblematik und nicht an der Ideologie des Rechtsextremismus“, sagt Leygraf.

Mit anderen Worten: Die Suche nach seiner sexuellen Identität nahm S. die Kraft, sich zum vernünftigen Erwachsenen zu entwickeln. Es brauchte einen Befreiungsschlag – doch der gelang erst, als die Szene und Jena weit weg waren. Darum, sagt Leygraf, sei im Falle des Angeklagten zur Tatzeit „nicht von einer gefestigten Persönlichkeit auszugehen“. Bei ihm habe „größeres Entwicklungspotential bestanden“.

S. hat damit hohe Chancen, nach dem Jugendstrafrecht verurteilt zu werden. Doch den Ruf der Leichtgläubigkeit, den er sich mit seiner Aussage zu Prozessbeginn erarbeitet hatte, ist mit der Expertise verloren.