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Wenn Zeugen lügen

 

Der Thüringer Marcel D. weiß im NSU-Prozess offenbar mehr als er zugibt. Doch deutsche Richter können Zeugen nur bedingt maßregeln. Opferanwälte protestieren. 

Der Prozesstag ist gerade ein paar Minuten alt, da muss Richter Manfred Götzl schon die erste Pause anordnen. Hinterbliebenen-Anwalt Alexander Hoffmann wollte den Zeugen Marcel D. befragen, Neonazi, möglicher NSU-Unterstützer und sämtlichen bekannten Beweisen zufolge Informant des Verfassungsschutzes. Die Bestätigung für Letzteres hatte im April ein hochrangiger Quellenführer des Thüringer Geheimdienstes vor Gericht geliefert. D. hatte demnach als V-Mann unter dem Decknamen Hagel Hinweise weitergegeben.

Hoffmann fragt den Zeugen, was er dazu zu sagen habe. „Ich habe keine Informationen weitergegeben“, sagt D. Wie er es bereits bei einer Vernehmung im März angegeben hatte. Also beantragt Hoffmann eine Pause – er muss nachsehen, welche seiner vielen vorbereiteten Fragen er nun noch stellen kann. Dass einer so nassforsch, so dreist auftritt und selbst angesichts von Fakten bei seiner einzigartigen Version von Wahrheit bleibt – das macht selbst erfahrene Anwälte sprachlos.

Wie ist umzugehen mit den Zeugen aus der rechten Szene, die im Zeugenstand immer wieder mauern, immer wieder verharmlosen und immer wieder auch lügen? Muss die Gerichtsbarkeit Härte zeigen, sie mit Strafverfahren überziehen – oder sie links liegen lassen, um sich wieder der Frage nach der Schuld der Angeklagten zu widmen? Tatsächlich könnten sich im Fall Marcel D. weitere Ermittlungen lohnen, denn er war anscheinend ein wertvoller Helfer für die Terroristengruppe aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – doch das wird erst auf den zweiten Blick sichtbar.

Marcel D. ist ein schwieriger Fall. Denn wenn ein Zeuge lügt, kann ein Richter nichts dagegen tun. Er kann die Aussage für seine Urteilsfindung ignorieren und der Gerechtigkeit halber darauf hoffen, dass ein Staatsanwalt ein Verfahren wegen Falschaussage anstrengt. Nur, wenn der Zeuge gar nichts sagen will, kann der Richter eingreifen.

Die Anwälte der Nebenklage versuchen darum, D.s Angaben umzudeuten: „Das ist keine Falschaussage, sondern eine Zeugnisverweigerung“, sagt der Berliner Anwalt Detlef Kolloge. Er beantragt, „ihn zu zwingen, hier eine wahrheitsgemäße Aussage zu machen“. Richter Manfred Götzl sieht das anders – eine Aussage ist eine Aussage, auch, wenn sie eklatant den Tatsachen entgegensteht. „Es ist auch nicht so, dass man die Daumenschrauben ansetzt, um eine bestimmte Aussage zu erzwingen“, sagt er. Anklagevertreter Herbert Diemer glaubt gar, dass Zwangsmittel als Folter anzusehen wären. Schließlich lehnt Götzl den Antrag ab.

Niemand stellt weitere Fragen. Damit, so scheint es, ist der Fall erledigt. Man könnte D.s Verhalten für pure Dreistigkeit halten. Doch der Thüringer handelt sehr wahrscheinlich nicht aus Ignoranz, sondern aus Angst. Es liegen Informationen vor, laut denen D. nach Bekanntwerden seiner V-Mann-Tätigkeit von der Szene massiv bedroht wurde. Auch hinter seinem Rücken schäumten ehemalige Kameraden, die in E-Mails von seiner „Judasarbeit“ sprachen.

Von der Spitzeltätigkeit an sich waren bislang allerdings nur wenige Details bekannt, denn die Akten mit Informationen von V-Mann Hagel waren geschreddert worden. So hieß es jedenfalls. Anfang April wurde dann bekannt, dass die Berichte sehr wohl vorhanden sind und beim Bundesamt für Verfassungsschutz lagern.

Zu den Dokumenten gehört auch D.s Notizbuch, in dem er Aufzeichnungen über Spenden an drei Kameraden gemacht hatte. Deren Namen: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Zweimal rund 700 Mark gingen demnach als Erlös aus Konzerten des rechtsextremen Netzwerks Blood & Honour an die untergetauchte Gruppe – dazu kam ein offenbar erfolgloser Versuch. D. notierte, er habe seinem Kumpel Thomas S. die Spende angeboten. Dieser habe jedoch abgelehnt, weil die drei mittlerweile „jobben“ würden und das Geld nicht benötigten.

D. war also „tief verstrickt“ in die Angelegenheiten des NSU, wie es die Anwältin Antonia von der Behrens nennt. Gestützt wird diese Annahme davon, dass die Mitangeklagten Ralf Wohlleben und Holger G. im Adressbuch von D. verzeichnet waren, er selbst wiederum in der Telefonliste des weiteren Angeklagten André E. So entsteht das Bild eines bestens untereinander vernetzten Helferkreises, der sich engagiert um die Belange der Neonazi-Gruppe kümmerte.

Hinzu kommt, dass D. offenbar an der Herstellung von T-Shirts mit der Aufschrift „The Skinsons“ beteiligt war – einer Karikatur der Fernsehserie Die Simpsons im Skinhead-Stil. Entworfen hatte das Motiv Uwe Mundlos. Die Verkaufserlöse des Shirts sollten der abgetauchten Gruppe zugutekommen, wie der Opferanwalt Yavuz Narin in einem Beweisantrag anführt.

Nun, da die Akten von D. wieder greifbar sind, fordern einige Nebenkläger, dass der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss sich mit seinem Fall beschäftigt – und eventuell sogar ein neuer Ausschuss des Bundestags. Die Causa bleibt somit brisant, weil sie erneut deutlich macht, wie nahe der Verfassungsschutz den NSU-Terroristen über seine Informanten gekommen war. Sollte es zu weiteren Untersuchungen kommen, wird Marcel D. wohl auch dort nichts beitragen – er will ja kein V-Mann gewesen sein.