Der NSU flog auf, der Verfassungsschutz vernichtete die Akten dazu. Nun wollen Anwälte im Prozess mit juristischen Mitteln die Vertuschung des Geheimdienstes aufklären.
Wenn es darum ging, seinen Informanten Decknamen zu verpassen, folgte der Geheimdienst einem ausgeklügelten System: „Tarif“, „Tinte“, „Treppe“, „Tonfarbe“, „Tusche“, „Tacho“, „Tobago“. Hinter jedem T-Wort steckt ein Thüringer Neonazi, der zumindest zeitweise in Kontakt mit der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund stand. Deren einziges überlebendes Mitglied Beate Zschäpe steht als Angeklagte vor dem Münchner Oberlandesgericht – und schweigt. Vor allem deshalb würden viele gerne etwas vom Wissen derjenigen erfahren, die die rechtsextreme Gruppe während ihrer Anfänge in den neunziger Jahren erlebt haben.
Doch Insider-Informationen sind nicht ohne weiteres zu bekommen, schon gar nicht im Fall des umfangreichsten Terrorprozesses in der deutschen Geschichte. Wer die V-Männer des Bundesamts für Verfassungsschutz waren, das ist zum größten Teil unbekannt. Auch was sie der Behörde damals an Informationen steckten, davon ist nur ein Kleinstteil bekannt – was nicht verwundert: Nur drei Tage, nachdem sich Zschäpe im November 2011 bei der Polizei gestellt hatte, wurden die Akten dazu vernichtet.
Ein Skandal ist das nicht nur für die Anwälte der Hinterbliebenen der zehn Mordopfer des NSU. Mit einem gewichtigen Antrag starteten sie am Montag einen neuen Versuch, etwas Licht in den hoch komplizierten V-Mann-Komplex zu bringen, der den Fall NSU umrankt: Mindestens 24 Informanten hatten Verfassungsschutzdienste von Bund und Ländern, Landeskriminalämter und der Militärische Abschirmdienst in der Nähe des Trios aus Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt angeworben.
Zumindest als die drei im Jahr 1998 in den Untergrund flüchteten, flossen fast ununterbrochen Informationen über sie an Behörden. Dort allerdings fühlte sich niemand bemüßigt, die Abgetauchten aufzuspüren. Irgendwann verlor sich ihre Spur.
Im Zusammenhang mit einer dieser Informationen steht der Antrag, den die Anwältin Antonia von der Behrens mit rund 30 Kollegen an das Gericht stellte. Er zielt ins Zentrum der deutschen Geheimdienstmacht: auf das Bundesamt für Verfassungsschutz. Dieses warb all die V-Männer mit den T-Namen während der sogenannten Aktion Rennsteig an, einer mehrjährigen Aufklärungsmaßnahme, die Ende der neunziger Jahre in der rechten Szene Thüringens anlief.
Unter ihnen: Michael von Dolsperg, der den Namen „Tarif“ erhielt. 2013 wurde er enttarnt, lebt heute in Schweden. Dolsperg ging an die Öffentlichkeit und erzählte, dass der Jenaer Neonazi André K. ihn kurz nach dem Untertauchen gefragt habe, ob er die drei verstecken könne. Dies meldete er seinem V-Mann-Führer, der ihn jedoch anwies, die Bitte abzulehnen. Eine Chance auf Ergreifung des Trios war vertan.
Man wüsste gern mehr darüber. Doch sämtliche Akten der T-Spitzel gerieten 2011 beim Bundesverfassungsschutz in den Schredder. Dafür gesorgt hatte ein Abteilungsleiter, dessen Name nur innerhalb des Verfassungsschutzes bekannt ist. Dem Untersuchungsausschuss des Bundestages wurde er unter dem Alias Lothar Lingen bekannt.
Für die Anwälte hinter dem Antrag ist klar, dass der Nachrichtendienst wie die Strafverfolger „gezielt außerhalb des ihnen gesetzten rechtlichen Rahmens operiert haben“. Es handle sich um einen Versuch „der gezielten staatlichen Beweismittelvernichtung“. Daher bleibe dem Strafsenat am Oberlandesgericht gar keine andere Möglichkeit, als nun neue Ermittlungen anzustrengen: Die Opfervertreter fordern, dass der Beamte Lothar Lingen als Zeuge aussagt. Er soll berichten, was ihn damals bewog, seiner verdatterten Mitarbeiterin den ungewöhnlichen Befehl einer Aktenvernichtung zu geben.
Wobei es mit dem Vernichten nicht ganz so klappte, wie sich Lingen das vermutlich vorgestellt hatte. „Tarif“ hatte satte 171 Meldungen beim Amt zu Protokoll gegeben. Es existierten Kopien. So ließ sich ein Anteil unbekannter Größe rekonstruieren, dasselbe gilt für die Akten der anderen Thüringer Spitzel. Mit anderen Worten: Das Bundesamt sitzt auf einem ungehobenen Datenschatz, der die Geschichte des NSU auf bislang ungekannte Weise nachzeichnet. Auch für den Strafprozess ist das immens wertvoll.
Doch Einsicht in das brisante Material erhielten weder die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses noch die Bundesanwaltschaft. Der einzige Nicht-Verfassungsschützer, der es wenigstens teilweise sehen durfte, war der „Sonderermittler“ Hans-Georg Engelke, der dem Untersuchungsausschuss Bericht erstattete. Engelke war allerdings kein unbeteiligter Dritter, sondern ein Beamter des Innenministeriums. Eine Station seiner Karriere: das Bundesamt für Verfassungsschutz.
Der damalige Behördenchef Heinz Fromm beteuerte, er habe von der Schredder-Aktion nichts gewusst, brachte sich vorsichtshalber aber Mitte 2012 mit der Bitte um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand aus der Schusslinie. Drei Leiter von Landesämtern für den Verfassungsschutz folgten mit Rücktrittsgesuchen. Alles, weil in der Mitte der Hierarchie Vertuscher am Werk waren?
Was genau sich auf den Fluren der Geheimdienste abspielte, ist auch fast vier Jahre nach Aufdeckung des NSU nicht ermittelt. Die Aufklärung reichte just soweit, wie der Verfassungsschutz gestattete. Dass ein Richter sich der Angelegenheit annimmt, ist die letzte Chance der Hinterbliebenen, etwas über die mysteriösen Vorgänge zu erfahren. Der Senat im NSU-Prozess muss nun entscheiden, ob sie ein Recht auf neue Ermittlungen haben.