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Aufklärung in eigener Sache

 

Im NSU-Prozess untersucht das Gericht den Fall der erfundenen Nebenklägerin. Dabei zeigt sich, wie listig ein Opfer in das Verfahren geschleust wurde – es hilft aber nicht bei der Aufklärung der Mordserie.

Das Phantom ist eine ältere Frau mit kurzen, hellblonden Haaren und einer Brille. Es gibt ein Bild von ihr, das erschreckend aussieht: Die Seniorin sitzt auf einem Sofa, über ihr linkes Auge ist Verband gelegt, die Haut dahinter ist gerötet. Das soll Meral Keskin sein, ein Opfer des NSU-Anschlags in Köln von 2004, das bis vor Kurzem Nebenklägerin im Münchner Terrorismusprozess war.

Doch das stellte sich Anfang des Monats als Lüge heraus: Frau Keskin existiert nicht, ihr Nebenklageanwalt Ralph Willms hatte das Mandat gegen Zahlung einer Provision angenommen, gezahlt an das tatsächliche Anschlagsopfer Attila Ö. Gegen Ö. hat Willms mittlerweile Strafanzeige gestellt.

Die Richter im NSU-Prozess hatten Keskins Antrag auf Zulassung zur Nebenklage auf Grundlage eines gefälschten Arztattests gestattet. Das war vielleicht ein fahriger Schritt. Deshalb wollen sie an diesem Tag aufdecken, was tatsächlich hinter dem Zeugen-Phantom steckt. Für Gericht und Bundesanwaltschaft war der BKA-Ermittler Frank L. nach Köln gefahren, um die Hintergründe zu recherchieren. An diesem Tag sagt er vor Gericht aus – was eigentlich Zeugen vorbehalten ist, die Informationen zu Schuld oder Unschuld der Angeklagten liefern können. In diesem Fall aber betreibt der Strafsenat Aufklärung in eigener Sache.

Die Angelegenheit war pikant. L. bekam sie in einer Akte mit dem Vermerk „Eilt sehr!“ vorgelegt. Informationen hatte er nur wenige. Meral Keskin hatte kein Geburtsdatum und keine Telefonnummer, nur eine Adresse – dieselbe wie Attila Ö.

Schon einen Tag, nachdem der Betrugsfall öffentlich geworden war, wollte L. eine Vernehmung mit Anwalt Willms führen. Der allerdings sagte am Vorabend ab – wegen angeblicher gesundheitlicher Probleme „auf unbekannte Dauer“. Blieben noch die Adresse von Attila Ö. sowie zwei Fotos von Meral Keskin. Einmal mit Verband und einmal nach der angeblichen Genesung. Der Anwalt hatte seine Mandantin ausschließlich auf diesen Bildern gesehen, die ihm Ö. vorgelegt hatte. Ermittler L. hatte bereits einen Verdacht: Von Ö.s in der Türkei geborener Mutter gibt es ein Bild im Ausländerzentralregister. Nach einem Vergleich der Fotos galt als relativ sicher, dass Ö. seine Mutter als falsches Opfer in den Prozess geschleust hatte.

Letzte Sicherheit sollte ein Hausbesuch liefern. Gemeinsam mit drei anderen Polizisten suchte L. die Wohnung von Ö. auf, dessen Mutter schlafend auf der Couch lag. Ö. selbst wollte sich nur zögernd zu der Affäre äußern. L. befragte ihn als Zeugen für den Prozess, nicht als Verdächtigen, der er nach der Betrugsanzeige des Anwalts war. Ö. telefonierte mit seinem eigenen Anwalt, der riet ihm ab.

„Ich habe dann noch mal an Herrn Ö. appelliert, es sich zu überlegen“, erzählt L. Daraufhin redete sich Ö. in Rage – über die Presse, von der er sich in ein schlechtes Licht gestellt fühlt, vor allem aber über Anwalt Willms. „Er sagte, Herr Willms habe sich die 5.000 Euro eingesteckt“, erinnert sich L. Die Summe wurde aus dem Opferentschädigungsfonds der Bundesregierung gezahlt – ebenfalls zu Unrecht, wie heute klar ist. Berichten zufolge ging sie auf einer Art Treuhandkonto ein, das Willms verwaltete. Ö., der mutmaßliche Betrüger, wähnte sich jedoch selbst betrogen.

Schließlich fragte der Kommissar, ob es das mysteriöse NSU-Opfer nun gebe oder nicht. „Nein, eine Meral Keskin gibt es nicht“, habe Ö. darauf geantwortet. Gewundert haben will sich Ö. demnach jedoch, dass er Post auf ihren Namen erhielt.

Das lässt ahnen, mit welch krimineller Energie das Nebenklage-Phantom kreiert wurde: Hatte Ö. seiner Mutter fürs Foto eigens einen Verband angelegt, um seine Glaubwürdigkeit vor dem Anwalt zu stärken? Hatte er ein Schild mit dem erdachten Namen an seinem Briefkasten angebracht, um die Post abfangen zu können? Die Kölner Staatsanwaltschaft, bei der die Anzeige des Anwalts eingegangen ist, dürfte noch einige Fragen an Ö. haben.

Für die Verteidiger im NSU-Prozess war es womöglich heimliche Freude, als mit der Affäre nun der Nimbus der Unglaubwürdigkeit an der oft unbequemen Nebenklage hing. Die Aufklärung des Vorfalls ging ihnen nicht weit genug: Beate Zschäpes Anwalt Wolfgang Stahl beschwerte sich, L. sei mit seinem Appell zur Aussage an den Zeugen zu weit gegangen.

Die Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben wollten wissen, wieso die Beamten beim Hausbesuch nicht Ö.s Mutter befragten. „Es war Wochenende, das wäre ein gewisser Aufwand gewesen“, antwortet L. Wohlleben-Anwalt Olaf Klemke nannte die Ermittlung im Anschluss „wieder mal bezeichnend“.

Tatsächlich aber sind die entscheidenden Fragen in der Betrugsaffäre geklärt – zu den Details wird sich Attilla Ö. wohl noch vor einem Kölner Gericht erklären müssen. Und im NSU-Prozess könnte es wieder um Schuld oder Unschuld der Angeklagten gehen.