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NSU-Opfer verlangen Antworten von Zschäpe

 

Wer half dem NSU, wie wurden die Morde organisiert, wen sollte es noch treffen? Diese Fragen haben Opferanwälte Beate Zschäpe im Prozess gestellt – und sich auch nach intimen Details erkundigt.

Verletzte und Angehörige von Opfern des NSU haben schon lange nicht mehr im Münchner Oberlandesgericht Platz genommen. In den Reihen der Nebenklage saßen zuletzt nur noch deren Anwälte. Die Aufarbeitung findet ohne diejenigen statt, die sie eigentlich betrifft.

Was sollen sie auch von dem Verfahren erwarten, solange die Hauptangeklagte Beate Zschäpe ihnen die Antworten schuldig bleibt auf entscheidende Fragen, die nur ein Mitglied des NSU kennen kann – etwa: Warum musste gerade unser Vater, Ehemann, Bruder sterben? Der NSU-Prozess hat an diesem Tag einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan: Die Nebenklagevertreter haben Gelegenheit erhalten, ihre Fragen an Zschäpe zu stellen.

Das Problem: In ihrer Aussage vor Gericht im vergangenen Dezember hatte Zschäpe angekündigt, sie werde die Nebenklage abblitzen lassen. Antworten werde sie nur den Richtern, Mitangeklagten und der Bundesanwaltschaft. Die Ankläger jedoch verzichten auf Nachfragen.

Die Fragen der Nebenkläger indes ziehen sich an diesem Prozesstag über mehrere Stunden. Zschäpes Anwalt Mathias Grasel führt Protokoll. Bis Gewissheit herrscht, ob Zschäpe darauf antworten wird, stehen mehrere Hundert Fragen im luftleeren Raum – als Dokument des Unwissens, das auch nach mehr als drei Jahren Prozess noch herrscht.

Der Anwalt Sebastian Scharmer macht den Anfang mit der Frage, die für die Hinterbliebenen über allem steht: „Wie wurden die Mordopfer ausgesucht?“ Er fragt einzeln nach den zehn Menschen, die laut Anklage Opfer des NSU wurden – die Verletzten zweier Bombenanschläge in Köln sind dabei noch nicht berücksichtigt. Dass Zschäpe in diesem Fall ihr Wissen – sofern existent – preisgeben wird, ist höchst unwahrscheinlich. Eine Antwort könnte andeuten, dass sie in die Planung der Verbrechen eingeweiht war.

Scharmer fragt, ob Zschäpe einmal in den Städten war, in denen die Morde geschahen, ob sie wusste, zu welchem Zweck in der Wohnung des NSU Stadtpläne und ellenlange Listen mit Adressen lagerten. Dabei könnte es sich nach Ansicht der Anklage um Ziele für weitere Mordanschläge handeln.

Wusste die Angeklagte, warum nach dem neunten Mord 2006 nicht mehr die Pistole vom Typ Ceska 83 zum Einsatz kam? Erfuhr sie, warum Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach neun Morden an Einwanderern in wesentlich größeren Städten zwei Polizisten im baden-württembergischen Heilbronn angriffen und die Beamtin Michèle Kiesewetter töteten?

Immer wieder geht es auch um das Abtauchen in den Untergrund und das Leben in der Anonymität. Die Anwälte fragen etwa, ob die drei noch eine Zweit- oder Drittwohnung nutzten und ob bei ihnen Spenden aus der rechten Szene eingingen. Und was tat der NSU, als 2002 von D-Mark auf Euro umgestellt wurde? Zuvor hatten Mundlos und Böhnhardt fünf Raubüberfälle begangen, um den gemeinsamen Lebensunterhalt zu finanzieren.

Die Kölner Anwältin Edith Lunnebach erkundigt sich nach Einzelheiten, die Zschäpe nicht in ihrer Aussage erwähnt hat. Sie will genau über das Liebesleben der Angeklagten Bescheid wissen. Bekannt ist, dass Zschäpe noch in den 1990er Jahren in Jena erst mit Mundlos, dann mit Böhnhardt zusammen war. Lunnebach fragt, ob sie später mit einem der beiden noch mal eine Beziehung geführt habe. Von einer Trennung in der Zeit im Untergrund hatte Zschäpe allerdings nichts erwähnt, sondern von ihrer Liebe zu Böhnhardt gesprochen.

Während der Frage beugt sich die Angeklagte zu ihrem Laptop und liest in einem Dokument. Später schließt sie sekundenlang die Augen. Lunnebach fragt weiter nach dem Zeugen Thomas M., der dem NSU Sprengstoff geliefert haben soll: Führte sie auch mit ihm eine Beziehung, wie M. selbst angegeben hatte? Und war das in der Szene bekannt?

Anwalt Yavuz Narin erkundigt sich, ob Mundlos und Böhnhardt noch andere Beziehungen pflegten, ob dabei gar Kinder entstanden. Zschäpe wurde mehrfach in Begleitung eines Kindes gesehen, etwa in einer Tierarztpraxis und als sie 2011 gemeinsam mit Böhnhardt ein Wohnmobil mietete.

Narin fragt auch nach weiteren Mysterien der Zeit in der Illegalität: So rüsteten die drei im Januar 2011 überraschend die Sicherheitsmaßnahmen ihrer Zwickauer Wohnung auf und installierten Kameras. Aus welchem Grund? Ebenso unklar ist, wieso die drei im Jahr 2008 überhaupt dorthin zogen.

Weitere Rätsel gibt das Bekennervideo auf, in dem die Serie von Gewalttaten des NSU dargestellt ist, montiert in Ausschnitte aus der Trickfilmserie Paulchen Panther. Am Ende des Films erscheint eine Tafel, auf der ein zweiter Teil mit dem Titel Paulchens neue Streiche angekündigt wird. Bedeutet das, es gab weitere Filme?

Auch Zschäpes Ideologie soll abgeklopft werden: Welche Einstellung hatten sie und die Uwes gegenüber Türken, Griechen und Juden? Welche gegenüber Polizisten? Und hielt Zschäpe die Morde an den neun Migranten für gleich schlimm wie den Heilbronner Polizistenmord?

Zschäpe wird im Prozess nun noch einmal die Gelegenheit bekommen, ihre Verstrickung in den NSU-Komplex aus ihrer Sicht darzustellen. In weiten Teilen betrifft dies allerdings Themenbereiche, bei denen die Antwort abzusehen ist: „Dazu kann ich nichts sagen.“

Zschäpes Wahlverteidiger Hermann Borchert kündigte an, er werde mit seiner Mandantin besprechen, „ob wir darauf eingehen“. Falls ja, würden mehrere Monate ins Land ziehen, um Antworten zu formulieren.

Die Überlebenden und Angehörigen dürfte das nicht mehr aufregen. Sie sind längst gewohnt, auf Antworten zu warten.