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Gab es weitere Opfer des NSU? – Das Medienlog vom Freitag, 2. September 2016

 

Hat der als Waffenbeschaffer angeklagte Carsten S. in seiner Aussage zu Prozessbeginn gelogen? Das vermuten die Anwälte des von S. schwer belasteten Ralf Wohlleben und ließen am Donnerstag eine seiner Angaben überprüfen. Demnach hätten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt „einen angeschossen“, wie Wohlleben im Jahr 2000 zu S. gesagt haben soll. Gab es also noch weitere NSU-Opfer? Eine Untersuchung, geführt von einem Ermittler des Bundeskriminalamts, konnte das nicht erhärten. „Seine Ermittlungen erscheinen aber eher oberflächlich“, merkt Tim Aßmann vom Bayerischen Rundfunk an.

An jedem Werktag sichten wir für das NSU-Prozess-Blog die Medien und stellen wichtige Berichte, Blogs, Videos und Tweets zusammen. Wir freuen uns über Hinweise via Twitter mit dem Hashtag #nsublog – oder per E-Mail an nsublog@zeit.de.

Grund dieser Bewertung: Der Kommissar ließ sich ungeklärte Fälle von Schusswaffenkriminalität von den Landeskriminalämtern vorlegen – aus Berlin aber wurden etwa nur Mordfälle vorgelegt, obwohl die Rede ja von „angeschossen“ war. Merkwürdigkeiten wurden „nicht hinterfragt, obwohl offenkundig ist, dass sie die ungeklärten Fälle jeweils nach völlig unterschiedlichen Kriterien überprüften“, schreibt Aßmann. Es sei zweifelhaft, dass der BKA-Mann die NSU-Taten für einen Vergleich gut genug gekannt habe.

„Tatsächlich entsteht an diesem Tag der Eindruck, das BKA habe lediglich halbherzig gesucht“, schreibt Wiebke Ramm auf Spiegel Online. Schließlich hätten die Ermittler in zwei Runden nach bislang unentdeckten NSU-Taten gesucht, ohne etwas zu finden. Ein Hinweis auf einen weiteren Fall kam dann von Carsten S. – ein Bombenanschlag auf eine Nürnberger Kneipe mit einem Verletzten.

Auch wir bei ZEIT ONLINE merken an, dass „die Rückmeldungen der LKAs auffällig unterschiedlich ausgefallen waren“. Letztlich gibt es keinen sicheren Hinweis, dass Mundlos und Böhnhardt in einem bislang nicht bekannten Fall geschossen hätten. „Ob die Aussage von S. dadurch nun angreifbar ist, darf jedoch als zweifelhaft gelten“, nachdem die Nachermittlungen so dürftig geführt worden waren.

Im Fall des Verfassungsschützers Thomas R. alias Corelli hat der Sonderermittler des Bundestags seine Untersuchung abgeschlossen. Darin ging es auch um Handys und SIM-Karten des Informanten, die überraschend beim Verfassungsschutz gefunden worden waren. Das Ergebnis: Auf den Medien finden sich keine Spuren zum NSU. Corelli hatte dem Bundesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2005 eine CD mit der Aufschrift „NSU/NSDAP“ übergeben. Im Jahr 2014 wurde er im Alter von 39 Jahren tot in seiner Wohnung aufgefunden.

Besucher und Berichterstatter im NSU-Verfahren müssen künftig auf eine Annehmlichkeit verzichten: Im Pausenraum neben dem Sitzungssaal werden keine Brötchen und andere Snacks mehr verkauft – weil im Laufe der Jahre Essen im Wert von mehreren Tausend Euro von dem unbewachten Selbstbedienungsstand geklaut wurde, wie das Oberlandesgericht am Donnerstag mitteilte. Denkbar ist freilich auch, dass diebische Besucher in die Kasse, eine einfache Keramikschale, griffen. Die „Abgründe am Rande des NSU-Prozesses“ (Neues Deutschland) sieht Frank Jansen vom Tagesspiegel als eine „Alltagsschäbigkeit. Doch auch die widert an. Als wäre der Prozess nicht schon trist genug“.

Das nächste Medienlog erscheint am Montag, 5. September 2016.