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Die letzten Waffen der Zschäpe-Anwälte

 

Ein Gutachter soll im NSU-Prozess einschätzen, wie gefährlich Beate Zschäpe ist. Ihre Verteidiger wollen das verhindern. Sie fragen: Was ist eine Diagnose wert, wenn die Angeklagte schweigt?

Für Beate Zschäpe steht derzeit womöglich der Rest ihres Lebens auf dem Spiel. Der Psychiater Henning Saß hat die Hauptangeklagte im NSU-Prozess begutachtet. Es geht um die Frage, ob Zschäpe so gefährlich ist, dass sie nach einer möglichen Haftstrafe in Sicherungsverwahrung genommen werden müsste. Kommt es dazu, könnte sie Jahrzehnte in Unfreiheit verbringen – im Extremfall bis zum Lebensende.

Am heutigen Verhandlungstag, dem vorletzten vor der Weihnachtspause, sollte Saß sein Gutachten vorstellen. Ein Pulk Neonazis war angereist, um Zschäpe und den anderen Rechtsextremen auf der Anklagebank Mut zu machen. Denn der wenig ermutigende Inhalt einer vorläufigen Fassung der Expertise ist längst durchgesickert: Saß sieht bei Zschäpe demnach einen „Hang“ zu Straftaten, dem sie in Freiheit wieder nachgeben könnte.

Für den Fall, dass das Gericht Zschäpe nicht glaubt, dass sie nur die verängstigte Mitläuferin von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gewesen sei, legt der Gutachter ihre Sicherungsverwahrung nahe. Zschäpes Verteidigung ist alarmiert – jedenfalls teilweise. Ihre erst im Laufe des Prozesses hinzugekommenen Anwälte Mathias Grasel und Hermann Borchert bieten keinerlei Gegenwehr auf. Sie setzen offenbar weiter auf die Glaubwürdigkeit ihrer Mandantin, obwohl Gutachter Saß in seinem Schriftsatz andeutet, dass er wenig von Zschäpes Aussagen hält.

Aber die von Zschäpe abgelehnten Anwälte Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm versuchen, Saß aufzuhalten. Vor einigen Wochen hatten sie bereits angekündigt, ein Gegengutachten erstellen zu lassen.

Nun werden sie konkreter und melden sich mit dem schärfsten Instrument, das ihnen zur Verfügung steht: einem Ablehnungsgesuch gegen Saß, ausgeführt auf 33 Seiten. Anwalt Heer lässt bei der Verlesung kein gutes Haar an dem Psychiater. Der 72-Jährige sei wegen seiner „fachlichen Ungeeignetheit“ von seiner Aufgabe zu entbinden, seine Expertise weise „schwere methodische Fehler auf“ und entspreche nicht den wissenschaftlichen Standards – die Saß freilich durch mehrere Fachbücher entscheidend mitgeprägt hat.

Der wichtigste Punkt der Anwälte: Zschäpe hat sich einem Gespräch mit Saß verweigert, der sogenannten Exploration. Die dient dazu, die innere Einstellung eines Angeklagten zu ergründen: seine Haltung, seine Sicht auf die Tat, seine Empathiefähigkeit. Die Exploration sei unverzichtbarer Teil jedes psychiatrischen Gutachtens, wie Saß in seinen eigenen Veröffentlichungen festgestellt habe.

Daraus schließen die Verteidiger, dass Saß umgehend seine Arbeit hätte einstellen müssen. Eine ziemlich bizarre Folgerung: ohne Exploration kein Gutachten, ohne Gutachten keine Sicherungsverwahrung. Einfach, weil der Angeklagte das so entscheidet. Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer spricht angesichts dessen von einem „Verlust der Rechtsrealität“ bei den Verteidigern.

Der Gutachter musste für die Bewertung gezwungenermaßen auf andere Quellen zurückgreifen: die Aktenlage, Aussagen von Zeugen über Zschäpe, ihre Mimik und Gestik im Gerichtssaal. Alles Stücke eines komplizierten psychiatrischen Puzzles, das Saß auf über 170 Seiten auslegt.

Die Verteidiger bemühen sich, das zur Kaffeesatzleserei zu degradieren. So beschreibt Saß in seinem Bericht, dass Zschäpe bei Zeugenbefragungen mit emotionalem Inhalt ihren Kopf so senkte, dass „die langen Haare das Gesicht verbargen und quasi die Funktion eines abschirmenden Vorhanges erhielten“. Heer wirft Saß vor, er habe andere Möglichkeiten wie „ein nicht vorhandenes Haargummi“ dabei außer Betracht gelassen.

Auch eine weitere Erkenntnis des Sachverständigen stellen die Verteidiger infrage: Demnach war Zschäpe schuldfähig und litt offenbar nicht an einer psychischen Störung. Auch deshalb sei Saß, der Psychiater, gar nicht zuständig, sondern eher ein Psychologe oder Kriminologe.

Zschäpes Anwälte verlangen außerdem, von einem weiteren Sachverständigen ein sogenanntes methodenkritisches Gutachten erstellen zu lassen. Der Experte ihrer Wahl ist Professor Pedro Faustmann von der Ruhr-Universität Bochum, der sich gleichzeitig als Hirnforscher betätigt. Das Gegengutachten hat er bereits erstellt.

In der Schlussphase des seit dreieinhalb Jahren dauernden Prozesses sind dies die letzten Mittel, die der Verteidigung noch bleiben. Doch gehen die Erfolgsaussichten wie bei so ziemlich allen Anträgen der Zschäpe-Verteidigung bisher gegen null. So sehen es die meisten Prozessbeteiligten. An der Eignung von Saß gebe es keine Zweifel, sagt etwa Bundesanwalt Herbert Diemer: „Es ist nicht nötig, ihm einen Aufpasser zur Seite zu stellen.“ Zumal die Anwälte in den letzten Wochen genug Zeit gehabt hätten, Gutachter Faustmann rechtzeitig ins Verfahren zu holen.

Danach wird der Prozess mal wieder unterbrochen. Erst am kommenden Tag wird sich entscheiden, ob Saß noch in diesem Jahr sein Gutachten vortragen kann. Die Richter sind erkennbar geneigt, diesen wichtigen Teil noch vor Weihnachten abzuschließen. Nach den kräftezehrenden Konflikten der letzten Zeit sehnen sich viele nur noch nach ruhigen Festtagen.