Beate Zschäpes Anwalt versucht im NSU-Prozess, das psychiatrische Gutachten infrage zu stellen – und scheitert dabei. Die Angeklagte ergreift überraschend selbst das Wort.
Man fragt sich, ob Rechtsanwalt Hermann Borchert seinen Auftritt im Gerichtssaal am Morgen vor dem Spiegel geübt hat. Ein ernster Blick, ein schneidender Tonfall und ein choreografisch optimiertes Absetzen seiner Lesebrille: Mit diesem Instrumentarium fühlt sich Borchert, Wahlverteidiger von Beate Zschäpe, offenbar ausreichend gerüstet, um im NSU-Prozess dem Psychiater Henning Saß entgegenzutreten.
Saß ist für die Verteidigung eine Art Angstgegner: In der vergangenen Woche erstattete er dem Münchner Oberlandesgericht sein Gutachten, laut dem Zschäpe im Sinne der Anklage voll schuldfähig war. Vorgeworfen wird ihr die Mittäterschaft an zehn Morden und zwei Bombenanschlägen, den Taten der rechtsextremen Terrorzelle NSU. Zudem erkannte Saß bei Zschäpe einen Hang zu Straftaten und legte dem Gericht für den Fall einer Verurteilung die Sicherungsverwahrung nahe.
Für die Hauptangeklagte steht mit dem Gutachten das weitreichendste Urteil im Raum: eine lebenslange Haft und eine anschließende Verwahrung. Das würde Jahrzehnte hinter Gittern bedeuten, ohne festgelegten Termin für eine Entlassung.
In dieser Situation müssen ihre Anwälte alles daran setzen, das Gutachten in Zweifel zu ziehen. Während Zschäpes drei Altverteidiger die Analyse einem von ihnen engagierten Gegengutachter vorlegen, hoffte Wahlverteidiger Borchert, den Psychiater mit ein paar kritischen Fragen aus den Konzept bringen zu können. Der Vorgang glich dem Versuch, sich an den eigenen Haaren aus dem Treibsand zu ziehen.
Borchert setzt seine Brille auf und liest aus dem Gutachten vor, in dem Psychiater Saß die Glaubhaftigkeit von Zschäpes Aussage aus dem Jahr 2015 bezweifelt. Darin behauptet die Angeklagte, sie habe immer erst im Nachhinein von den Morden erfahren. Saß hält die Einlassung für „unpersönlich“ und „floskelhaft“ – etwa weil darin der platte Ausdruck „blinde Liebe“ vorkommt. Borchert setzt die Brille ab und fragt: „Welche Formulierung hätten Sie als Sachverständiger denn erwartet? Meine Mandantin ist ja keine Literaturkritikerin.“
Der Psychiater lässt sich allerdings nicht aus der Ruhe bringen. Entspannt erläutert er, dass ihm von Zschäpe auch ganz andere Äußerungen bekannt sind – etwa aus dem Brief, den sie im Frühjahr 2013 aus der Untersuchungshaft an einen Dortmunder Neonazi geschrieben hatte. Darin benutzt sie Begriffe wie „Schokoschnäuzchen“ und „Sonnenschein“. Das wirke „lebhaft und einfallsreich“, sagt Saß. Es werde deutlich, dass sich Zschäpe auch anders ausdrücken könne.
Borchert aber lässt nicht locker. Brille auf: „Meine Mandantin hat sich bei den Opfern und Angehörigen schriftlich entschuldigt“, Brille ab. „Was hätten Sie denn von ihr erwartet, um sie nicht als nüchtern und emotionslos zu bewerten?“ Saß kontert: „Ich weiß nicht, ob es hier um meine Erwartungen geht.“ Man könne sich aber „ein breites Spektrum emotionaler Begleitung vorstellen“.
Teilweise wirkt die Befragung so, als ob sich Borchert Tipps für die nächste Aussage seiner Mandantin holen will. Im weiteren Verlauf wird immer klarer, wie sehr die Strategie von Zschäpes neuen Anwälten Hermann Borchert und Mathias Grasel versagt hat. Beide unterstützten Zschäpe anders als die drei Stammverteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm bei einer Aussage. Nun aber hat der erfahrene Gutachter Saß alle Gelegenheit, noch einmal zu zeigen, dass hinter der scheinbaren Offenheit nur Strategie steckte.
Es ist ein so bizarrer wie aufreibender Gerichtstermin. Borchert fragt, Saß antwortet auch nach Stunden mit der Gemütsruhe eines erfahrenen Psychiaters, der sein Handwerk seit Jahrzehnten betreibt und die Leitlinien der Begutachtung hierzulande selbst mitformuliert hat. Sein Gutachten erleidet keinen Kratzer. Zschäpes Altanwälte wollen erst am kommenden Tag Fragen stellen.
Borchert kommt schließlich noch einmal auf Zschäpes Brief aus der Haft zurück. Er erklärt im Namen seiner Mandantin, dass die ungewöhnlich lebhaften Worte Zschäpes zum Teil gar nicht aus ihrer Feder stammten, sondern von einer Postkarte abgeschrieben seien. Allerdings besteht der Brief aus 26 handschriftlichen Seiten. Da können Zitate von einer Postkarte nur einen kleinen Anteil haben.
Richter Manfred Götzl wendete sich zu Zschäpe und fragte, ob die Äußerung ihres Anwalts denn zutreffend sei. Statt wie üblich nur zu nicken, zog die Angeklagte das Mikrofon auf ihrem Tisch an sich heran und begann zu sprechen: „Was der Sachverständige aufzählt, sind nicht meine eigenen Worte, das ist nicht von mir“, sagte sie. Es ist das zweite Mal im Verfahren, dass sie sich persönlich äußert.
Die Wortmeldung kann ein Hinweis darauf sein, dass sich Zschäpe mittlerweile ihres Glaubwürdigkeitsproblems bewusst ist. Spontan und ohne schriftliche Vorlage – so war Zschäpe bisher noch nie zu erleben. Allerdings ist die Angeklagte damit spät dran – wahrscheinlich zu spät.