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773 Seiten Zschäpe

 

Beate Zschäpes Anwälte wollen mit allen Mitteln das psychiatrische Gutachten zu ihrer Mandantin angreifen. Im Gericht fallen Nazi-Parolen.

340 Tage dauert der NSU-Prozess bereits, absolviert wurden sie in mehr als dreieinhalb Jahren. Bis zu diesem Punkt mussten nicht nur Richter, Anwälte und Beobachter durchhalten, sondern auch der psychiatrische Sachverständige Henning Saß. An mehr als der Hälfte der Tage saß er mit im Gerichtssaal, in aller Regel stumm, gekleidet in unauffälliges Grau, sorgsam Notizen niederschreibend.

Saß beobachtete. Er registrierte, wie sich Beate Zschäpe verhielt, die wider ihren Willen seine Probandin ist. Der Psychiater hatte vom Gericht den Auftrag bekommen, die Hauptangeklagte zu begutachten und einzuschätzen, ob sie bei der Mittäterschaft an zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen schuldfähig ist. In der vergangenen Woche lieferte Saß die Antwort: Er attestierte Zschäpe die Schuldfähigkeit und eröffnete den Richtern damit die Möglichkeit, sie zu lebenslanger Haft zu verurteilen.

Wegen seiner Beurteilung muss sich der vormals Schweigende am 340. Prozesstag nun einer verschärften Befragung durch Zschäpes Verteidiger unterziehen lassen. Beim Versuch, Zweifel zu säen, war am Vortag noch Wahlverteidiger Hermann Borchert mit völlig unbeholfenen Fragen gescheitert. Ernsthafter versucht es nun Zschäpes Pflichtverteidigerin Anja Sturm. In ihrer Befragung verfolgt sie eine andere Strategie – und will vor allem wissen, wie das Gutachten zustande kam: Wie entschied Saß, an welchen Tagen er die Verhandlung verfolgte? Worauf achtete er genau? Machte er sich Notizen? „Handschriftlich“, antwortet Saß, „schlecht geschrieben, aber für mich lesbar.“ Das Material belaufe sich mittlerweile auf 773 Seiten – alle gefüllt mit Beobachtungen über Zschäpe.

Für die Verteidigung sind die Notizen interessant – schließlich haben die Anwälte selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben. Der Sachverständige Pedro Faustmann aus Bochum soll Expertise von Saß prüfen. Ihm Versäumnisse nachzuweisen, dürfte aber schwer werden. Saß hat die Vernehmungen von Zschäpes Weggefährten vor Gericht verfolgt, er hat ihre Biografie untersucht und ihrer Aussage zugehört. Zudem begutachtete er die Hauptangeklagte während der Verhandlungen auch im Hinblick auf die sogenannte Psychomotorik. Demnach sind Mimik, Gestik und Bewegung der Schlüssel zum Gemüt des Probanden: Nimmt ihn ein Thema mit oder lässt es ihn kalt? Stellt er sich der Situation oder schaltet er innerlich ab? Saß gehört zu den erfahrensten Gutachtern in dieser Disziplin.

In seinem Gutachten schildert Saß fein säuberlich, wie er zu seinen Schlussfolgerungen gelangt. So wandte sich Zschäpe etwa nach kurzer Zeit ihrem Laptop zu, als die Witwe eines Mordopfers sie anflehte, sich endlich zu äußern. Mit ihren Anwälten, beobachtete Saß, unterhielt sich Zschäpe hingegen offen und „mit einer gewissen Heiterkeit“ – bevor Zschäpe ihnen das Vertrauen entzog und kein Wort mehr mit ihnen wechselte. Als unumstößliche Fakten stellt Saß sein Ergebnis nicht dar. Das Gericht wird entscheiden, ob es ihm folgen will.

Verteidigerin Sturm will es am 340. Prozesstag schließlich ganz genau wissen. Sie fordert, dass Saß seine Beobachtungen anhand seiner Notizbücher darlegt. Die will der Sachverständige allerdings nicht herausgeben. Dann, befindet die Anwältin, muss das Material eben auf andere Weise aufgearbeitet werden. Ob er sich noch an den ersten Verhandlungstag erinnere? Ja, sagt Saß, an die aufgeregte Atmosphäre. Was nahm er bei Zschäpe wahr? Das kann er nicht sagen.

Aus diesem Grund verlangt die Verteidigung, dass Saß seine Notizen aus seinem Wohnort Aachen ins Gericht mitbringt. Es wird deutlich, dass die Anwälte notfalls bereit sind, alle 773 Seiten mit dem Psychiater durchzugehen. Richter Manfred Götzl meldet keine Zweifel an, sondern plant mit Saß bereits die nächsten Befragungstermine. Das Gutachten, letzter wichtiger Aspekt vor dem Urteil, wird das Gericht wohl noch mehrere Wochen beschäftigen.

Gegen Ende des Prozesstags meldet sich dann noch einmal Olaf Klemke zu Wort, der Verteidiger des als Waffenbeschaffer angeklagten Ralf Wohlleben. Im Tarnmantel eines Antrags verbreitet er unverhohlene Neonazi-Propaganda – die These vom sogenannten Volkstod. Durch einen im Prozess zu ladenden Demografen wollen die Anwälte des früheren NPD-Funktionärs belegen, dass die Deutschen durch „massenhafte Einwanderung“ bald eine Minderheit im eigenen Land sein werden. Unter Verweis auf das Bundesverfassungsgericht und das Grundgesetz behauptet Klemke, es gebe eine „Pflicht zur Identitätswahrung“.

Hintergrund des Vorgangs ist ein bei seinem Mandanten sichergestelltes Feuerzeug mit der Aufschrift „Volkstod stoppen“. Wohllebens Anwälte kehren die Parole mit verquerer Logik ins Gegenteil und behaupten, aus dem Spruch könne „nicht auf eine ausländerfeindliche Einstellung des Herrn Wohlleben geschlossen werden“.

Diesem Signal an Wohllebens Gesinnungsgenossen stellt sich der Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler entgegen. Falls es jemals Zweifel an der Ideologie des Angeklagten gegeben habe, seien diese nun ausgeräumt, sagt Daimagüler. Ein gutes Dutzend anderer Opfervertreter äußert sich wortlos: Sie verlassen aus Protest den Saal.