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Panik gibt den Ton an

 

Durch das Gutachten des Psychiaters Henning Saß droht Beate Zschäpe das härteste Urteil. Ihre Anwälte kämpfen dagegen an. Die Chancen stehen schlecht.

Sollten Beate Zschäpe noch Zweifel umtreiben, die das nahende Urteil im NSU-Prozess betreffen, muss sie nur einen Blick auf ihre drei Altanwälte werfen. Mit Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm ist sie zwar bis zur völligen Kontaktverweigerung zerstritten, doch die Pflichtverteidiger versehen weiter ihren Dienst. Nur: Bei der Verteidigungsarbeit regiert längst nicht mehr Weitsicht oder juristische Bissigkeit, sondern eine zunehmende Panik.

Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn man den Umgang der Anwälte mit dem Psychiater Henning Saß beobachtet. Er hat dem Gericht ein Gutachten über Zschäpe erstattet und ihr damit praktisch alle Hoffnungen auf ein Urteil unter lebenslang genommen. An Saß arbeiten sich Heer, Stahl und Sturm ab.

Was wollen sie auch ausrichten, wenn der Sachverständige gut nachvollziehbar und bestens gerüstet mit Argumenten zeigt, wieso Zschäpe in Bezug auf die NSU-Verbrechen voll schuldfähig war, wenn er auf anerkannte psychiatrische Praxis gegründet darlegt, wieso sie vermutlich weiter gefährlich und damit qualifiziert für die Sicherungsverwahrung ist?

Inhaltliches haben die Anwälte bislang jedenfalls nicht vorgebracht. Dafür wird erneut deutlich, wie angespannt ihr Nervenkostüm nach bald vier Jahren Arbeit an der Seite von Zschäpe sein muss. In dem selben Zeitraum hat Saß die Hauptangeklagte immer wieder beobachtet – er hat notiert, wie sie schaut, wie sie auf Angehörige der NSU-Opfer reagiert, wann sie Emotionen zeigt und wann sie sich zurückzieht. Die sogenannte Psychomotorik ist ein wichtiger Teil von Saß‘ Gutachten.

Nun ist er wieder für die ganze Woche in den Zeugenstand geladen. Schon in der vorigen Sitzung hatten die Verteidiger von ihm gefordert, nicht nur seine wichtigsten Beobachtungen über Zschäpe zu schildern, sondern seine vollständigen Unterlagen offenzulegen, die sich nach Saß‘ Auskunft auf stolze 773 Seiten summieren.

An diesem Papierstapel entzünden sich im aufgeheizten Schlussstimmungsklima des Prozesses die Irritationen. Saß selbst hat überhaupt keine Lust, seine Aufzeichnungen im Saal aufzublättern. Das nämlich seien Dinge, „die nicht für andere bestimmt sind“, lässt er wissen. Darum lägen die Notizen daheim in seinem Arbeitszimmer in Aachen. „Das ist ja unglaublich!“, entfährt es Anwalt Heer. Die Verteidiger sind kalt erwischt, sie hatten offenbar erwartet, dass die Befragung nach ihren Regeln zu laufen hat.

Anwältin Sturm, an diesem Tag die Wortführerin der Zschäpe-Riege, will sich hilfesuchend an Richter Manfred Götzl wenden. Der macht aber klar, dass er den Sachverständigen keineswegs verpflichtet hat, seine Unterlagen mitzubringen, und Unklarheiten gebe es auch keine. „Es ist doch ganz offensichtlich“, hält Sturm mit nun bebender Stimme dagegen. „Da könnte man aus der Hose springen“, ätzt auf dem Höhepunkt des Zwists ihr Kollege Stahl.

Tatsächlich hatte es auf viele Beobachter gewirkt, als sei Götzl in der Notizenfrage aufseiten der Verteidiger. Doch ein pragmatischer Umgang mit der Situation liegt den Juristen nicht.

Gleichwohl erstaunlich ist, dass die Verteidigung nicht mit Hochdruck die Tatsachen angreift, die Götzl vergangene Woche in das Verfahren einführen ließ: Der Strafsenat verlas eine Liste mit den Adressen von 232 jüdischen Einrichtungen – Synagogen, Schulen, Altenheimen und anderen, extrahiert aus einer Datensammlung von mehr als 10.000 möglichen Anschlagszielen in Deutschland. Gefunden wurde die Aufstellung auf Datenträgern in der Zwickauer Wohnung des NSU-Trios.

Unter den Orten mit jüdischem Bezug: die Synagoge in der Berliner Rykestraße. Genau dort will ein Wachpolizist im Mai 2000 Beate Zschäpe und Uwe Mundlos beobachtet haben, wie er damals gegenüber dem Landeskriminalamt angab. Der Beamte hatte sich auf eine Fahndung nach den drei Untergetauchten aus Jena gemeldet. Dass Zschäpe sich – wohl kaum zufällig – an Orten aufhielt, die später in Planungslisten vermerkt wurden, könnte als weiteres Indiz für ihre Mittäterschaft gelten. Nicht als zwingender Beweis, wohlgemerkt. Doch Götzl zeigte durch sein entschlossenes Vorgehen, dass er die Berliner Spur für wichtig hält.

Wofür also ein Streit um Notizen? Sturm, Stahl und Heer geht es offenbar darum, einen Disput um die Deutungshoheit über Saß‘ Interpretationen anzuzetteln. Das ist aber schon deshalb sinnlos, weil das Urteil über die Schuldfähigkeit und die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung beim Gericht liegen.

Für eine Lage, in der die Panik den Ton angibt, folgt die Strategie der Verteidiger sogar einer Art Logik: Wichtig ist anscheinend nur noch der Kampf. Gegen wen, das scheint derzeit egal.