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Ist Beate Zschäpe schuldfähig?

 

Ist die Angeklagte schuldfähig? Ist sie psychisch gestört? Um diese Frage wird derzeit im NSU-Prozess gestritten. Ein Psychiater will im Auftrag der Verteidigung schwere Fehler im Gutachten über die Angeklagte entdeckt haben.

Ziemlich ungemütlich geht es derzeit im Münchner NSU-Prozess zu. Da wird geschrien, gepöbelt, gestritten. Die Schlussphase von Deutschlands umfangreichstem Terrorismusprozess strapaziert die Disziplin von allen, die daran teilnehmen.

Den Ausschlag gaben am Dienstag die Verteidiger der Hauptangeklagten Beate Zschäpe. Sie wehren sich gegen das Gutachten des vom Gericht beorderten Sachverständigen Henning Saß, der Zschäpe für voll schuldfähig erklärt und die Sicherungsverwahrung für sie nahegelegt hat. Zschäpes Verteidigung greift deshalb zu einem sogenannten methodenkritischen Gutachten, erstellt von dem Bochumer Neurologen und Psychiater Pedro Faustmann. In einem umfangreichen Antrag forderten die Verteidiger, Faustmann als Sachverständigen anzuhören. Dessen Untersuchung habe in Saß‘ Ergebnis schwere Fehler aufgedeckt.

Dagegen wehrte sich am Mittwoch die Bundesanwaltschaft: Es gebe keinen Anlass, an der Kompetenz des erfahrenen Psychiaters Saß zu zweifeln, erklärte Oberstaatsanwältin Anette Greger. Streit entbrannte in der Folge nicht um die Sache, sondern darum, dass die Staatsanwälte den Anwälten keine Abschrift ihrer Stellungnahme übergeben wollten. „Grob unfair“, nannte das Verteidiger Wolfgang Heer; Bundesanwalt Herbert Diemer bezeichnete die Forderungen der Verteidiger als „Schikane“. Irgendwann riefen alle durcheinander, Richter Manfred Götzl musste mühevoll den Frieden in seinem Saal wiederherstellen.

Der kontroverse Auftakt war wohl schon ein Vorgeschmack darauf, wie erbittert in den kommenden Wochen um die Bedeutung von Faustmanns Gutachten gerungen werden wird: Es geht um die Frage, welche Bedeutung die für Zschäpe sehr negative Bewertung durch Saß im Urteil bekommen wird. Die Anwälte der Hauptangeklagten werden nicht zurückstecken.

Götzls Entscheidung über den Antrag folgt am Donnerstagmorgen: Er ruft Psychiater Faustmann als Sachverständigen in den Zeugenstand. Der 57-Jährige ist Facharzt für Nervenheilkunde und Neurologie, mit Qualifikation für forensische Psychiatrie. 2.500 Gutachten hat er nach eigenen Angaben im Laufe seiner Karriere geschrieben.

Die Methodenkritik an der Einschätzung seines Berufskollegen Saß ist 41 Seiten lang. Faustmann hat das ursprüngliche Gutachten sorgfältig analysiert, im Hinterkopf die Frage, ob Saß mit unsauberen Methoden zu seinem Schluss gekommen ist. Denn darin liegt das Problem aller psychiatrischen Analysen: Was im Kopf des Probanden passiert, lässt sich nicht nach den Gesetzen der Physik messen oder nachweisen – jede Deutung ist zwangsläufig eine Interpretation des Gutachters.

Dabei habe Saß einen grundlegenden Fehler gemacht, meint Faustmann: Der vom Gericht bestellte Psychiater habe Zschäpe zwar als psychisch gesund erkannt, ihre Persönlichkeit aber nach den Maßstäben für Menschen mit psychischer Krankheit oder abnormen Wesenszügen beurteilt.

Faustmanns Begründung: Saß beziehe sich in seinem Gutachten auf die sogenannten Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten, die vor gut einem Jahrzehnt von einer vierköpfigen Arbeitsgruppe am Bundesgerichtshof erarbeitet wurden. Einer der vier war Saß selbst – er sollte also wissen, nach welchen Methoden die Persönlichkeit Zschäpes zu untersuchen war. Faustmann bemängelt dennoch, dass der Kollege an vielen Stellen die „Operationalisierung“ vermissen lasse, also seine Diagnosekriterien nicht ausreichend deutlich gemacht habe.

Sollte das Gericht die Kritik für plausibel halten, bekäme Saß wohl Gelegenheit, auf die Vorwürfe zu antworten. Mitte Mai soll Faustmann deshalb für Nachfragen erneut in München gehört werden. Der Gutachter hatte während seiner Aussage scharf Kritik an Saß geäußert: Saß entziehe sich seinem wissenschaftlichen Auftrag, weil er an einer Stelle auf eine Wertung verzichtet, obwohl angeblich psychiatrische Diagnosekriterien zur Verfügung stünden.

An mehreren anderen Punkten kritisiert Faustmann, dass Saß sein Fazit nicht vernünftig erklärt. So habe er bei Zschäpe eine „Neigung zum Externalisieren, Verdrängen und Abspalten“ diagnostiziert, ohne deutlich zu machen, worauf seine Einschätzung beruht.

In anderen Punkten hingegen stimmt Faustmann seinem Kollegen zu – auch in dem zentralen Punkt, dass Zschäpe keine Hinweise auf psychische Störungen zeige. „Auf der Basis der mitgeteilten Inhalte ist dieser psychiatrisch wertenden Einschätzung zu folgen“, notiert Faustmann in seinem Gutachten.

Dazu allerdings wird in der kommenden Woche eine andere Meinung ins Spiel kommen: Der Freiburger Professor Joachim Bauer, ebenfalls Psychiater, hat Zschäpe in der Untersuchungshaft besucht und befragt. Ihren Neuanwälten Mathias Grasel und Hermann Borchert zufolge kommt Bauer zu dem Ergebnis, Zschäpe leide an einer abhängigen Persönlichkeitsstörung.

Wem ist nun zu folgen? Wessen Einschätzung über Zschäpes Geisteszustand hat vor Gericht Bestand? Die Antwort steht theoretisch bis zum Urteil aus – tatsächlich aber hatte Richter Götzl mehrmals deutlich gemacht, dass das Gericht auf andere Einschätzungen als die von Saß keinen Wert legt. Die Richter verfolgen derzeit vor allem ein Ziel: den Prozess zum Ende zu bringen.