Trifft Beate Zschäpe eine geringere Schuld, weil sie an einer Persönlichkeitsstörung litt? Ein Psychiater ist dieser Ansicht. Doch in seinem Gutachten stecken Widersprüche.
Wenn Uwe Böhnhardt die Argumente ausgehen, schlägt er seiner Freundin Beate Zschäpe ins Gesicht. Sie fällt zu Boden, er tritt ihr in den Bauch, danach muss sie sich erbrechen. Ein andermal springt er nach einem Streit hoch und tritt ihr zwischen die Schulterblätter. Als er und Uwe Mundlos wieder zu einer ihrer Mordtouren aufbrechen wollen, ist Zschäpe dagegen. Da würgt er sie.
Es ist die Beschreibung einer fast 14 Jahre dauernden Hölle: Die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, Zschäpe, hat dem Psychiater Joachim Bauer ihr Leben im Untergrund mit Mundlos und Böhnhardt geschildert. Ob die Gewaltdarstellungen stimmen, weiß nur Zschäpe selbst. Dem als unberechenbar geltenden Böhnhardt wären sie zuzutrauen.
Siebenmal hat Bauer die Hauptangeklagte des NSU-Prozesses in der Untersuchungshaft getroffen. Das Ergebnis ist ein psychiatrisches Gutachten, dass der gerade emeritierte Professor des Freiburger Universitätsklinikums an diesem Tag vor Gericht vorstellt.
Demnach ist Zschäpe nicht Täterin, sondern Opfer – ihrer schweren Kindheit, der „rechtsradikalen Verführer“ ihres Wohnviertels in Jena und von Gewalt und sexuellen Übergriffen durch Uwe Böhnhardt. In dem Gutachten Bauers heißt es, die Angeklagte leide an einer sogenannten dependenten Persönlichkeitsstörung, deren Betroffene sich krankhaft von anderen Menschen abhängig machen – in diesem Fall von Böhnhardt und Mundlos. Sie sei deshalb vermindert schuldfähig gewesen, was im Urteil üblicherweise einen Strafrabatt bringt. Zudem sieht Bauer für eine Einweisung in die Sicherungsverwahrung keinen Anlass.
Bauers 57-seitige Expertise ist der Gegenentwurf zu dem von den Richtern bestellten Gutachten, verfasst von dem Aachener Psychiater Henning Saß. Er hatte seit Prozessbeginn am Großteil der Sitzungen im Gerichtssaal gesessen und Zschäpe beobachtet.
Saß kommt in seiner umfangreichen Analyse zu dem Schluss, dass die Angeklagte zur Zeit der NSU-Morde voll schuldfähig war. Zudem erkennt er bei Zschäpe einen Hang zu Straftaten und legt die Verhängung der Sicherungsverwahrung nahe. Daran hat auch Zschäpes Aussage von Ende 2015 nichts geändert. Damals hatte sie ausgesagt, sie sei in die Taten nicht eingeweiht gewesen und habe dagegen protestiert. Nur: Saß glaubt ihr nicht.
Einem Gespräch mit ihm hat sich Zschäpe stets verweigert. Das Fehlen dieser sogenannten Exploration haben Zschäpes Anwälte Mathias Grasel und Hermann Borchert als Makel gesehen – und als Hebel, um einen von ihnen beauftragten Sachverständigen in das Verfahren zu bekommen. Sie haben Bauer beauftragt und ins Gericht geladen.
Der zeichnet das Bild einer harmoniesüchtigen, einsamen Frau, die schon als Säugling vernachlässigt wurde und kein Vertrauen zu ihrer alkoholsüchtigen Mutter fand. „Ich möchte immer in Harmonie leben“, habe Zschäpe ihm erzählt. So habe sie sich den Rechtsextremismus damals zu eigen gemacht, weil er „Zeitgeist“ gewesen sei. Auch eine Aussage, die Zschäpes Mutter Annerose 2011 bei der Polizei gemacht hatte, dient Bauer als Quelle für die Jugendzeit der Angeklagten. Diese habe weder Kindheit noch Gewalt als Rechtfertigung für ihre Straftaten ins Feld geführt, sagt Bauer vor Gericht mehrfach. Vielmehr habe sie sensible Themen aussparen wollen: „Ich habe Angst, die Schleusen zu öffnen.“
Darin liege die Erklärung, warum Zschäpe vor Gericht fast immer unberührt und selbstbewusst wirke: Es gebe „zwei Ebenen in ihr“, ein Schema, das sie in der Kindheit entwickelt habe. Für Menschen mit dependenter Persönlichkeitsstörung sei das typisch. Genauso Zschäpes ständige Angst, von ihrem Partner Böhnhardt verlassen zu werden. So habe sie, als das Trio 1998 vor der Polizei in den Untergrund floh, eine Erleichterung gespürt: „Jetzt ist er mit mir zusammen. Wir waren auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet“, zitiert Bauer aus einem seiner Gespräche mit Zschäpe.
Während Bauer die Äußerungen Zschäpes im Gerichtssaal wiedergibt, sitzt die Hauptangeklagte wie gewohnt auf ihrem Platz: konzentriert aus dem Gutachten mitlesend, ohne sichtbare Mimik. Vor Bauer konnte sie sich angeblich öffnen, in ihrer Aussage vor Gericht und bei ihren Antworten auf Fragen des Richters waren Vernachlässigung und Schläge hingegen nur angedeutet. Zudem verlasen ihre Anwälte die Äußerungen für sie. Selbst im Gericht auszusagen – davon war sie angeblich überfordert. Anders war es etwa bei dem Mitangeklagten Carsten S., der zu Prozessbeginn offensichtlich unter großen emotionalen Mühen tagelang aussagte.
Dem psychiatrischen Porträt Bauers stehen die Aussagen von früheren Wegbegleitern und späteren Bekannten des Trios entgegen. Sie lieferten durchweg Beschreibungen von Zschäpe als selbstständiger, teils sogar dominanter Frau. Im Urlaub soll sie die Kasse verwaltet haben und Böhnhardt und Mundlos gewissermaßen Taschengeld ausgezahlt haben, für Nachbarn war sie die „Außenministerin der Dreier-WG“.
Diese Aussagen bekam Bauer aber im Gegensatz zu Saß nicht zu sehen – die Anwälte legten ihm eine kleine Auswahl an Einlassungen vor. Auch dass Zschäpe nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos noch deren letzte Wünsche erfüllte, indem sie die gemeinsame Wohnung in Zwickau anzündete und die Bekennervideos des NSU verschickte, mutet seltsam an – war sie mit dem Ableben ihrer Mitbewohner doch aus „verschärfter Geiselhaft“ befreit, wie es Bauer formulierte. Tatsächlich habe sie erst „im Gefängnis ein Stück Freiheit zurückgewonnen“.
Am Ende der Sitzung richtet Richter Manfred Götzl das Wort an Bauer: Ob die Verteidiger Borchert und Grasel ihn denn nicht darauf hingewiesen hätten, dass Zschäpes Mutter vor Gericht nicht zugestimmt hatte, ihre Aussage bei der Polizei als Beweis zu verwerten? Nein, antwortet Bauer, davon wisse er nichts. Möglich, dass es auch die beiden Anwälte schlicht nicht wussten; Zschäpes Mutter war vor Gericht aufgetreten, lange bevor Grasel und Borchert von Zschäpe engagiert wurden.
Das ist ein Problem: Was nicht verwertet werden darf, hat auch keinen Platz im Gutachten. Götzl fragt, wie wichtig die Angaben der Mutter für das Ergebnis waren. Bauer fängt an zu lavieren, sagt dann, die Einlassung sei „sehr wertvoll“ gewesen.
Damit deutet sich schon an, dass seine Expertise in den kommenden Sitzungen demontiert werden dürfte.