Am Psychiater Henning Saß haben sich Beate Zschäpes Anwälte die Zähne ausgebissen: Entgegen allen Widerständen hält er an der Schuldfähigkeit der Angeklagten fest.
In einem Gerichtssaal ist der Psychiater Henning Saß eine Insel der Bodenständigkeit. Wird um ihn herum gestritten und geschrien – wie so häufig im Münchner NSU-Prozess – tut Saß das, was er am besten kann: abwarten, beobachten, überlegen. Vier Jahre lang hat er mit dieser Aufmerksamkeit die Regungen der Hauptangeklagten Beate Zschäpe beobachtet, im Auftrag des Gerichts.
Doch auch Saß kann vor Abfälligkeit triefende Spitzen abfeuern, wenn jemand die Expertise des 72-Jährigen infrage stellt. Immerhin hat er die moderne forensische Begutachtung in Deutschland mitentwickelt und im Laufe seiner Karriere um die 1.000 psychiatrischen Gutachten über Straftäter geschrieben. Sein 15 Jahre jüngerer Berufskollege Pedro Faustmann hatte sich im selben Prozess vor rund einem Monat mit einem Ausstoß von 2.500 Gutachten gerühmt. „Das kann man nur bewundern“, sagt Saß mit ironischer Trockenheit.
Es ist seine Art, sich gegen die zahlreichen Angriffe zu verteidigen, denen er sich im NSU-Prozess aussetzen musste. Die Geschichte bis hierher: Aus den Beobachtungen im Gericht und den Ergebnissen der Ermittlungen fertigte Saß ein Gutachten, in dem er Zschäpe für die Mittäterschaft an den Morden als voll schuldfähig einstuft. Zudem charakterisierte er sie als sogenannte Hangtäterin, die in Freiheit wahrscheinlich wieder Straftaten begehen würde – eine Empfehlung für die Sicherungsverwahrung. Schlimmer hätte die Analyse für Zschäpe nicht ausfallen können.
Zschäpes Anwälte fanden darauf zwei Antworten. Ihre Altverteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm engagierten den Bochumer Psychiater Pedro Faustmann – den Mann mit den 2.500 Gutachten. Er legte ein sogenanntes methodenkritisches Gutachten vor, prüfte also Saß‘ Ergebnisse auf Fehler. Das Ergebnis: Saß habe viele Begriffe nicht richtig erklärt und wissenschaftliche Methoden falsch angewandt.
Zschäpes Neuverteidiger Mathias Grasel und Hermann Borchert beauftragten den Freiburger Psychiater Joachim Bauer, bekannt als Autor von Lebensratgebern. Um ihm vor Gericht die nötige Schubkraft zu verleihen, warteten sie mit einer Überraschung auf: Bauer durfte Zschäpe in der Haft besuchen und mit ihr sprechen, insgesamt 16 Stunden lang. Einem Gespräch mit Saß hatte sich Zschäpe stets verweigert. In der Folge kam Bauer zu dem Ergebnis, Zschäpe leide an einer sogenannten dependenten Persönlichkeitsstörung, mache sich also krankhaft von anderen abhängig. Daher habe sie während der gemeinsamen Zeit im Untergrund in „verschärfter Geiselhaft“ bei ihren Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gelebt und sei nicht schuldfähig.
An diesem Tag bekommt Saß Gelegenheit auf die Kritik zu antworten. Seine Replik ist ruhig im Ton, dafür aber gespickt mit Gegenargumenten. Kurz gefasst macht der Psychiater das klar, was offenkundig auch die Meinung des Gerichts ist: Dass für diesen Prozess nur ein einziger Gutachter gebraucht wird – nämlich er.
Punkt um Punkt erklärt er, warum er die Methodenkritik von Faustmann für grundlos hält. Damit betrachtet er den Kollegen zumindest noch auf Augenhöhe – anders als Gutachter Bauer, wo Saß nicht einmal die „Mindestanforderungen für ein Gutachten“ als erfüllt sieht. Bauer verarbeitete darin Zeugenaussagen, die Zschäpes Anwalt Grasel für ihn auswählte. Zudem habe er nur „für die eigene Sichtweise bedeutsame“ Aspekte zur Kenntnis genommen.
In den Gesprächen hinter Gittern teilte Zschäpe Bauer mit, Böhnhardt habe sie während der gemeinsamen Jahre im Untergrund immer wieder misshandelt, er habe sie geschlagen, getreten und bespuckt. Bauer habe ihr jedes Wort geglaubt, betonte er.
Warum er die Gewaltakte aber überhaupt thematisierte, bleibt nebulös: Die Übergriffe standen nicht in Zusammenhang mit der mutmaßlichen Mittäterschaft bei den Morden, also Zschäpes Rolle als bürgerlicher Deckmantel des NSU. Im Gegenteil: Gerade in Schlüsselsituationen kam es nach Zschäpes Angaben nicht zu Gewalt – so, als sie sich gegen eine Flucht nach Südafrika aussprach oder als sie drohte, sich bei der Polizei zu stellen. All dies sind Beispiele, dass sich Zschäpe mit Selbstbewusstsein und klaren Ansagen gegen die Uwes behaupten konnte.
Gutachter Saß sieht bei ihr keine Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung. Was Bauer herausgefunden haben will, seien „nur auf Vorannahmen beruhende Spekulationen“. Es ist eine Klatsche, voll auf der Linie des Gerichts, das rasch zu den Plädoyers kommen will. Die Vernehmung von Saß ist der letzte Programmpunkt in der Beweisaufnahme, auf dem Richtertisch liegt nur noch ein Antrag von Nebenklageanwälten, die Psychiater Bauer für befangen erklären lassen wollen. Bis die Schlussvorträge beginnen, wird es aber noch mindestens einen Monat dauern: Zschäpes Altanwälte bekommen bis Ende Juni Zeit, sich kritische Fragen an Saß zu überlegen – mit Unterstützung von Rekordgutachter Faustmann.