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Die großen Fragen zum Schluss

 

Die Plädoyers im NSU-Prozess müssen warten. Vorher muss das Gericht beraten, ob der Schlussvortrag der Anklage aufgezeichnet wird. Das wirft grundsätzliche Probleme auf.

Für die meisten war es ein kollektives Aufatmen: Jetzt ist das Ende eingeläutet! Das Urteil des NSU-Prozesses vor dem Oberlandesgericht München? Nur noch eine Frage der Zeit, seit Richter Manfred Götzl am Vortag den Beginn der Plädoyers auf den heutigen Mittwoch festgelegt hatte.

Wirklich nur noch eine Frage von Monaten? Ja. Das bedeutet aber nicht, dass das Terrorverfahren – zehn Morde, zwei Bombenanschläge, 15 Raubüberfälle – ab sofort einem verlässlichen Fahrplan folgt. Eigentlich sollte die Bundesanwaltschaft mit ihrem Schlussvortrag beginnen, geplante Dauer: 22 Stunden. Dann stünde schon in Kürze die Forderung über ein Strafmaß für Beate Zschäpe und die vier anderen Angeklagten im Raum. Das verhinderten mehrere Verteidiger aber mit einem neuen Antrag. Über den entscheiden die Richter am kommenden Dienstag.

Der Überraschungsfaktor: gering. Eine Lehre aus vier Jahren und gut zwei Monaten Verhandlung ist, dass Meilensteine im Prozess grundsätzlich durch Anträge der Verteidigung verzögert werden. So war das vor der Verlesung der Anklage, so war das vor der Einführung des psychiatrischen Gutachtens über Beate Zschäpe und so ist das nun auch vor den Plädoyers.

Anlass der neuesten Verzögerung ist ein Antrag von Zschäpes Anwälten. Sie hatten am Vortag gefordert, den mehrtägigen Vortrag der Bundesanwaltschaft auf Tonband aufzeichnen zu lassen, um alles „ungestört erfassen und nachvollziehen“ zu können. Alle anderen Verteidiger schlossen sich an. Zu Sitzungsbeginn lehnte Richter Götzl die Forderung erwartungsgemäß ab.

Das wollen die Anwälte nicht akzeptieren. Sie werfen eine grundsätzliche Diskussion auf: Wie viel muss ein Gericht leisten, um Anwälten die Arbeit und den Angeklagten das Verständnis zu erleichtern? Das ist eine berechtigte Frage, keine sinnlose Prozessbremse.

Film- und Tonaufnahmen sind während einer laufenden Verhandlung grundsätzlich nicht gestattet, sofern sie zur öffentlichen Vorführung gemacht werden. Als Gedächtnisstütze wären sie aber legal. Das jedoch wollte Richter Götzl nicht gelten lassen und verbot die Aufnahme. Die Vertreter der Bundesanwaltschaft würden in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt, wenn die Mitschnitte an die Öffentlichkeit gelangten. Zudem gehöre es „zum Berufsbild des forensisch tätigen Juristen“, sich während des Vortrags Notizen zu machen.

Die Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben erhoben daraufhin eine sogenannte Gegenvorstellung, also einen Widerspruch. Auch diesmal schlossen sich mehrere Angeklagten-Anwälte an. Die Diskussion darüber eröffnete Götzl ganz offiziell: „Es wird wieder in die Beweisaufnahme eingetreten.“ In dem Moment wurde klar, dass vier Angehörige von Mordopfern und die etlichen Journalisten und Besucher umsonst zum Prozess gereist waren.

Die Anwälte argumentierten, das Persönlichkeitsrecht sei für die Anklagevertreter als Amtsträger nur nachrangig – zumal der Vortrag aus einem fast vollständig abgelesenen Manuskript bestehen werde. Das Manuskript wollen der Bundesanwalt Herbert Diemer und seine Kollegen aber nicht herausrücken.

Das wohl spannendste Argument für eine Aufzeichnung lieferten die Verteidiger des Mitangeklagten Holger G., die sich in den vergangenen Jahren nur selten zu Wort gemeldet hatten. „Unser Mandant hat uns gesagt: Wenn ich einen Satz notiere, verpasse ich in der Zwischenzeit drei Sätze“, sagte Anwalt Stefan Hachmeister. Die Verteidiger von Zschäpe und Wohlleben berichteten Ähnliches von ihren Mandanten.

Schießt also die Justiz an ihrer eigentlichen Aufgabe vorbei, wenn sie so kompliziert ist, dass ein Angeklagter bei dem Geschehen nicht mehr mitkommt? Grundsätzlich nicht, denn auch der Anwalt des Beschuldigten gilt als Teil der Justiz. Damit hat er die Aufgabe, seinem Mandanten Juristendeutsch und gesetzliche Feinheiten verständlich zu machen. Entsprechend entgegnete Diemer: „Es ist nicht die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, den Vortrag an Laien anzupassen.“ Zugleich sei er überzeugt, dass die Angeklagten selbst den Plädoyers folgen könnten. Und überhaupt sei ein Strafprozess „kein Stuhlkreis“.

Vermutlich hatte das Gericht einen Streit dieser Art vorausgesehen. Bis zur Sommerpause im August waren sieben Sitzungstage angesetzt. Für das Plädoyer der Bundesanwaltschaft wäre das mehr als genug. Ab nächster Woche bleiben noch fünf. Es könnte eine Punktlandung vor den Ferien werden.