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Die Opfer und Angehörigen müssen warten

 

Anträge gegen die Richter bremsen den NSU-Prozess auf ungekannte Langsamkeit. Mittlerweile steht fest: In diesem Jahr fällt das Urteil nicht mehr.

Normalerweise hat sich André E. schon gemütlich in seinen Stuhl hinter der Anklagebank gefläzt und auf seinem Handy herumgetippt, wenn die Richter in den Saal treten. Jetzt aber trottete er flankiert von Polizisten aus derselben Tür wie Beate Zschäpe. Der 38-Jährige sitzt seit drei Wochen in Untersuchungshaft. Auch seinetwegen tritt der NSU-Prozess seitdem auf der Stelle. Längst hätten die Plädoyers der Nebenkläger, also von Angehörigen der Mordopfer und Verletzten der Anschläge, beginnen sollen. Stets wurden sie verschoben.

Eine Verzögerung des NSU-Verfahrens, dieser gigantischen Terrorverhandlung, die seit knapp viereinhalb Jahren in München ausgefochten wird – das ist nicht neu. Gerade wenn es um die Opfer gehen soll, spielt sich das Verfahren fern der Betroffenen ab. Es gehört zum Muster des Prozesses, dass vor wichtigen Schritten zunächst eine juristische Volte mit Anlauf vollführt wird; in aller Regel von den Verteidigern der Angeklagten. Sie haben nun bewirkt, dass das Urteil definitiv nicht mehr in diesem Jahr fällt.

Diesmal sind es mehrere Befangenheitsanträge, die die Leidtragenden abermals in eine Statistenrolle zwängen. Bundesanwalt Herbert Diemer, Vertreter der Anklage, kam in seinem Plädoyer Mitte September zu dem Ergebnis, dass E. das NSU-Trio unterstützt und sich so der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht hatte. Er beantragte eine Haftstrafe von zwölf Jahren. Weil die Forderung damit überraschend hoch ausfiel, beantragte Diemer auch, E. in Untersuchungshaft zu nehmen – er befürchtete, dass der Angeklagte flüchtet.

Richter Manfred Götzl erließ den Haftbefehl. E.s Anwälte konterten den Beschluss mit insgesamt zwei Befangenheitsanträgen, die sich gegen alle fünf Richter richten. Die Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben schlossen sich an und stellten ihrerseits einen ähnlichen Antrag.

Während E. sich in der Münchner Haftanstalt Stadelheim, wo auch Zschäpe und Wohlleben einsitzen, an das Gefängnisleben gewöhnte, pausierte der Prozess. Über die Befangenheitsanträge muss ein anderer Senat des Oberlandesgerichts entscheiden. Das dauert. Länger als drei Wochen darf das Verfahren nicht unterbrochen werden – nur deshalb fand sich das Gericht in dieser Woche zusammen.

Das wiederum passte E.s Verteidiger Michael Kaiser nicht. Am Mittwochmorgen faxte er einen neuen Antrag an das Gericht. Im Laufe der Verhandlung übergab er dem Gericht zwei weitere innerhalb einer Dreiviertelstunde, auch Wohllebens Anwalt Olaf Klemke reichte zwei Gesuche ein. Insgesamt sind nun acht Anträge anhängig.

„Die meisten Opfer haben sich an diese Art von Prozessverzögerung gewöhnt“, sagt der Nebenklageanwalt Eberhard Reinecke, der Verletzte des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße von 2004 vertritt. „Diese Serie von Anträgen ist ein Ausdruck der Hilfslosigkeit der Verteidigung.“

Den Anfang hätte an diesem Tag eigentlich die Anwältin Edith Lunnebach machen sollen. Ihre Mandantin Mashia M. wurde 2001 bei einem früheren Anschlag in Köln durch einen Sprengsatz verletzt. Die Opfer und Angehörigen können selbst das Wort ergreifen und auch ein Strafmaß für die Angeklagten fordern, die meisten werden aber ihre Anwälte für sich sprechen lassen.

Zwar war von den Dutzenden Befangenheitsanträgen, die im NSU-Prozess schon gestellt wurden, noch kein einziger erfolgreich – doch solange zumindest theoretisch zu befürchten ist, dass die Richter abgesetzt werden, spricht niemand aus den Reihen der Nebenklage.

Richter Götzl tat sein Möglichstes, das Verfahren in Gang zu halten. Er nutzte den Tag, um rechtliche Hinweise zu erteilen. Dazu gehört, dass für Beate Zschäpe eine Verurteilung in Betracht kommt, bei der die besondere Schwere der Schuld festgestellt wird. Eine Formalie – so hatte es die Bundesanwaltschaft beantragt.

Mehr kam nicht – außer den neuen Ablehnungsgesuchen. Seit der Inhaftierung seines Mandanten ist E.s Verteidiger Kaiser so umtriebig wie nie. Den ganzen Prozess lang hatte er genau wie E. selbst geschwiegen und das Geschehen an sich vorbeiziehen lassen. Das könnte sich nun als schwerer Fehler erweisen. Es wirkt, als versuche der Anwalt auf den letzten Metern noch einen Stich zu setzen.

Dass das Verfahren damit in eine selbst für den NSU-Prozess ungekannte Langsamkeit verfällt – einerlei. Sowohl Kaiser als auch Wohllebens Verteidiger Klemke kündigten gegen Mittag jeweils einen weiteren Befangenheitsantrag für den kommenden Tag an – macht insgesamt zehn.

Richter Götzl blieb nichts anderes, als die folgenden Sitzungstermine zu streichen. Der NSU-Prozess pausiert bis zum 24. Oktober – drei Wochen, gerade so lange, wie es das Gesetz zulässt.