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Der Schmerz der Eltern

 

Es war NSU-Mord Nummer neun: Vor elf Jahren wurde der 21-jährige Halit Yozgat in Kassel ermordet. Im Prozess sprechen seine Eltern über die Verzweiflung, mit der sie bis heute nicht fertig werden.

Frau Yozgat trägt einen schwarzen Mantel und ein bunt gepunktetes Kopftuch aus glänzender Seide. Sie spreche „im Namen Allahs, des Barmherzigen“, sagt sie auf Türkisch vor den Zuhörern in Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. Aber eigentlich richtet sie sich vor allem an eine Person, fünf Meter entfernt von ihr, auf der Anklagebank: Beate Zschäpe.

„Können Sie einschlafen, wenn Sie Ihren Kopf auf das Kissen legen?“, fragt die 59-Jährige. „Ich nicht, seit elf Jahren. Ich vermisse meinen Sohn sehr, so sehr.“ Und Zschäpe ist dafür verantwortlich, meint Ayse Yozgat. Ihr Sohn, das ist Halit Yozgat. Am 6. April 2006 wurde er in seinem Internetcafé in Kassel erschossen – laut Anklage von den NSU-Mitgliedern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Er wurde 21 Jahre alt. Zschäpe steht wegen der Mittäterschaft bei zehn Morden vor Gericht – Halit Yozgat war das neunte Mordopfer.

Zschäpe lebte mit Mundlos und Böhnhardt zusammen in Zwickau. Seit der NSU vor sechs Jahren aufflog, sitzt sie in Untersuchungshaft. „Am Anfang haben die Uwes für sie gesorgt, jetzt der Staat“, merkt Frau Yozgat spitz an, „herzlichen Glückwunsch, Frau Zschäpe!“

Halit Yozgats Eltern nehmen die Gelegenheit wahr, im NSU-Prozess selbst ein Plädoyer zu halten. Halits Geschwister schweigen. Doch für die Eltern ist der Gang an die Öffentlichkeit Teil ihrer Trauerarbeit. Das hat auch damit zu tun, dass der Tod ihres Sohns bis heute einer der rätselhaftesten im Terrorkomplex ist: Zur Tatzeit war der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme in dem Café und chattete mit Frauen. Die Schüsse will er nicht gehört, beim Herausgehen den sterbenden Yozgat nicht gesehen haben. Eine sorgfältige Klärung verhinderte das Landesamt für Verfassungsschutz. Temme verstrickte sich in Widersprüche, kam aber sogar im NSU-Prozess damit durch. Fall erledigt.

Für die Familie und ihre Anwälte freilich nicht. Frau Yozgat kritisiert den Senat, der ihrer Meinung nach nicht genug Aufklärung betrieben habe: „Sie waren meine letzte Hoffnung, mein Vertrauen. Aber ich sehe, dass bei Ihnen kein Ergebnis herauskommt.“

Im Anschluss tritt Ismail Yozgat an das kleine Pult, das im Gerichtssaal aufgebaut ist. Der Mann im hellgrauen Anzug hatte bereits im Oktober 2013 als Zeuge ausgesagt. Damals schlugen sich die Trauer und die Verzweiflung eines Mannes Bahn, der seit dem Mord an seinem Sohn das erdrückende Gefühl hat, in Deutschland völlig isoliert und unverstanden dazustehen.

Als er erzählte, wie er den leblosen Körper seines Sohnes in dem Internetcafé fand und Halit ihm nicht antwortete, stand er auf, drehte sich um und schrie durch den Saal. In Richtung von Beate Zschäpe brüllte er: „Mit welchem Recht haben Sie mein Lämmchen getötet?“

Vier Jahre später wird klar, dass die Trauer den Vater noch genauso quält wie in allen Jahren zuvor. Seine Stimme ist laut, polternd, anklagend. Und sie wird im Laufe des Plädoyers immer lauter und klagender. Viele Gedanken sind, jedenfalls in der Übersetzung, nicht zu verstehen, manche Sätze enden im Nichts.

Doch unmissverständlich ist, wen Herr Yozgat für sein Leiden verantwortlich macht: Andreas Temme, den Verfassungsschützer, und seinen Dienstherrn, den damaligen hessischen Innenminister Volker Bouffier. „Temme hat meinen Sohn ermordet“, sagt der 62-Jährige, „und Bouffier hat seine Straftaten verdeckt.“

Unzweifelhaft ist, dass Bouffier damals mauerte und sich gegen Ermittlungen im Landesamt für Verfassungsschutz verwahrte, auch erteilte er keine Aussagegenehmigung für V-Männer des Amtes. Dass aber Temme in irgendeiner Weise Urheber des Mords ist, dafür gibt es keine belastbaren Hinweise.

Das aber zählt nicht für Yozgat. Entscheidend ist, dass er das Gefühl hat, mit seinem Schmerz ignoriert zu werden. So habe er Bouffier einen Brief geschrieben und um ein Gespräch gebeten. Das habe der Minister jedoch abgelehnt. „Die Entscheidung überlasse ich Ihnen, dem gesamten deutschen Volk“, sagt Yozgat und beginnt zu weinen: „Darf er einem Mann wie mir so eine Antwort schreiben?“

Yozgat ist der Beleg dafür, dass es Deutschland und seiner Politik nicht gelungen ist, eine Versöhnung mit den Opfern zu erreichen – bedingt durch die apathische, fruchtlose Aufklärung der Affäre. Mehrmals fällt an diesem Tag auch der Name Angela Merkel, die bei einer Gedenkveranstaltung die umfassende Aufklärung versprochen hatte. Die Hinterbliebenen fühlen sich von ihr betrogen.

Doch auch die Justiz hat die Yozgat-Eltern enttäuscht. Mehrmals fordert Ismail Yozgat, das Gericht solle eine Ortsbesichtigung in den früheren Räumen des Internetcafés an der Holländischen Straße in Kassel machen. Dann würden die Richter „selbst feststellen, dass Temme gelogen hat“. Einen entsprechenden Antrag seiner Anwälte hatte der Strafsenat im Januar dieses Jahres abgelehnt. Solange aber die Richter nicht das Ladenlokal besichtigen wollten, werde er das Urteil nicht anerkennen.

Schon bei seiner Zeugenaussage hatte Yozgat immer wieder seine Forderungen vorgetragen – damals war es der Wunsch, die Holländische Straße in Halitstraße umzubenennen. Und auch dort schien es, als stecke dahinter der Wunsch, mit seinem Schicksal Gehör zu finden.

Auch wenn nicht alle Familien der Mordopfer so offensiv darüber sprechen: Es dürfte ihnen genauso gehen. Zum Schluss richtet sich Herr Yozgat noch einmal an die Richter. „Ich wünsche es Ihnen nicht“, sagt er, „aber wenn Ihr Sohn dem Terror zum Opfer fallen würde, könnten Sie unser Leiden verstehen.“