Im Terrorprozess hat der Sohn des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek gesprochen. Trotz seines Leids ist er bereit, sich zu versöhnen – aber nicht mit Beate Zschäpe.
„Als ich zu meinem Vater durfte, fiel mir gleich auf, dass sein linkes Auges zerfetzt war. Ich habe drei blutverschmierte Löcher in seiner Brust und seinem Gesicht gesehen. Insgesamt habe ich sechs Löcher gezählt. Das werde ich nie vergessen.“
Man hört es an der Stimme von Abdul Kerim Şimşek, wie dieser Moment vor gut 17 Jahren sich bei ihm eingebrannt hat. Der 10. September 2000, die Intensivstation des Nürnberger Krankenhauses. Sein Vater Enver in dem Zimmer, an Apparate angeschlossen. Keiner wollte ihm sagen, was passiert ist. Doch der Sohn, 13 Jahre alt, begriff es auch so.
Um das, was einen Tag zuvor in Nürnberg geschehen war, geht es vor dem Oberlandesgericht München. Abdul Kerim Şimşek ist Nebenkläger im Prozess um die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Der heute 30-Jährige hält, als einer von wenigen Betroffenen, ein eigenes Plädoyer. Zehn Morde hat der NSU begangen. Enver Şimşek war Opfer Nummer eins, niedergeschossen am 9. September 2000 an seinem mobilen Blumenverkaufsstand, an einem Parkplatz ganz am Rande von Nürnberg. Von Kunden alarmierte Polizisten fanden ihn dort schwer verletzt.
Kaum vorstellbar, dass die Rechtsterroristen hier durch reinen Zufall auf einen türkischen Gewerbetreibenden, der noch dazu in Hessen wohnte, trafen. Seda Basay, eine der Anwälte der Familie Şimşek, hält es für ausgeschlossen. Ortskundige Neonazis halfen dem NSU beim Aufspüren von Tatorten und Menschen, davon ist sie wie viele Opfervertreter in dem Verfahren überzeugt.
„Meine Mutter hielt die Hand meines Vaters, fiel heulend auf die Knie und brach zusammen. Dann fingen die Maschinen an zu piepen. Die Krankenschwestern schickten uns raus. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Vater lebend gesehen habe.“
Am Morgen des Tags, also einen Tag nach den tödlichen Schüssen, hatte man Abdul Kerim in dem Saarbrücker Internat geweckt, in das er ging. Die Eltern arbeiteten schließlich von früh bis spät in ihrem Blumengroßhandel. Er habe gespürt, dass etwas Furchtbares passiert war, sagt er. Die Gewissheit kam in Nürnberg.
„Wir hatten Angst, weil er noch lebte, weil wir dachten, die Täter kommen nochmal, um die Tat zu Ende zu bringen. Ich wollte meinen Vater schützen.“
Am 11. September 2000 starb Enver Şimşek. Er hinterließ seine Frau, den Sohn und die damals 14-jährige Tochter. Er wurde 38 Jahre alt.
War er ein Zufallsopfer, weil er an dem Tag einen Kollegen vertrat, der eigentlich dort die Blumen verkaufen sollte? Oder hatten seine Mörder mit höchster Präzision diesen Moment abgepasst? Familie Şimşek weiß es nicht, und das ist es, was sie bis heute quält.
Ermittler fanden im Besitz des NSU eine Adressliste mit Tausenden Einträgen, mögliche Anschlagsziele. Mehrere in Nürnberg. Einen Imbiss zum Beispiel. „Problem: Tankstelle nebenan, Türke geht in jeder freien Minute rüber zum Reden“, haben die Macher der Liste notiert. Das findet man nicht im Vorbeigehen raus. Akribische Vorbereitung der NSU-Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nennt das die Bundesanwaltschaft. Beweis für ein Netzwerk aus Gesinnungsgenossen vor Ort, die heute noch frei herumlaufen, nennen es die Nebenklageanwälte.
„Wir brachten den Leichnam in die Türkei. Als Sohn war es meine Pflicht, ihn zu Grabe zu tragen. Es gibt dort keinen Sarg, nur ein weißes Leinentuch. Als wir ihn ins Grab legten, färbte sich das Tuch rot am Hinterkopf, wo die Schussverletzung war. Bis dahin habe ich nicht geweint. Als ich die Erde auf ihn schüttete, weinte ich.“
Zu Beginn seines Plädoyers war Şimşeks Stimme fest. Jetzt wird sie brüchiger. Manche Sätze schreit er beinahe. „In dem Augenblick habe ich verstanden, dass ich meinen Vater nie wiedersehen werde!“
Zurück in Deutschland weinte seine Mutter nur noch, sie hatte Depressionen. Was es in der Familie Şimşek an Fröhlichkeit und Geselligkeit gab, war auf einmal weg. Die Familie, nur noch eine Hülle. Von der Gesellschaft abgeschnitten. Auf einmal ausgesetzt den Verdächtigungen von Ermittlern, die versuchten, dem Vater Verbindungen in die organisierte Kriminalität oder ins Drogenmilieu nachzuweisen. Es hörte erst auf, als sich der NSU 2011 selbst enttarnte und ein Video verschickte, in dem er sich zu der Mordserie bekannte.
„Ich habe bis zur Aufdeckung niemandem erzählt, dass mein Vater umgebracht wurde. Es klingt absurd, aber ich war erleichtert, als ich hörte, dass er von Nazis umgebracht worden war. Die Heimlichtuerei war zu Ende.“
Heute ist er selbst Vater einer zweijährigen Tochter. Er schaut in Richtung der Angeklagten.
„Warum mein Vater? Wie krank ist das, einen Menschen wegen seiner Herkunft zu töten? Können Sie verstehen, was das für uns bedeutet? Im Bekennervideo den Vater blutend auf dem Boden zu sehen, zu wissen, dass er stundenlang dort lag?“
Beate Zschäpe hat nie erklärt, wie der NSU seine Opfer auswählte. Sie will es nicht gewusst haben. Mit einer dürren Erklärung versuchte sie, sich für unschuldig zu erklären.
Von den fünf auf der Anklagebank hat nur einer umfassend über seine Tat ausgesagt: Carsten S., der dem NSU die Pistole überbracht hatte, mit der neun Menschen erschossen wurden – auch Enver Şimşek. Er hat die Angehörigen um Verzeihung gebeten. „Herr S., ich nehme Ihre Entschuldigung an.“ Der Angeklagte weint. Şimşek weiter: „Ich möchte, dass alle anderen im höchsten Maße zur Verantwortung gezogen und bestraft werden.“
Beate Zschäpe tut nichts. Sie starrt an ihm vorbei.