Carsten S. soll die Mordwaffe des NSU beschafft haben. Seine Anwälte fordern Freispruch. Demnach war S. kein überzeugter Nazi – und ahnte nichts von den Tötungsplänen.
Carsten S. sitzt da wie gefroren, mit geschlossenen Augen, als sein Anwalt über Selbstmord spricht. Hätte S., der Mitangeklagte im NSU-Prozess, nicht ausgesagt, dann „säße er womöglich heute nicht hier“, sagt sein Verteidiger Johannes Pausch. Denn hätte sein Mandant geschwiegen, dann „hätte er damit nicht weiterleben können“.
Doch Carsten S. hat gesprochen, über mehrere Tage im Mai 2013, als der NSU-Prozess begann. Er gestand, dem Nationalsozialistischen Untergrund im Jahr 2000 die Pistole vom Typ Česká 83 geliefert zu haben, mit der die Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt neun Menschen erschossen. Die Bundesanwaltschaft fordert deshalb drei Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord.
Es ist eine milde Forderung. Sie beruht auf dem Jugendstrafrecht, weil S. damals noch keine 21 Jahre und nicht reiflich gefestigt war. Doch für seine Verteidiger ist der heute 38-Jährige im juristischen Sinne unschuldig. Sie beantragen, S. freizusprechen.
Zwischen den Forderungen von Anklage und Anwälten steht die entscheidende Frage: War Carsten S. klar, dass die Pistole zum Werkzeug einer terroristischen Mordserie werden würde? Infrage steht nicht, was er tat, sondern, ob er wusste, was er tat. Auch die Bundesanwaltschaft ist sicher, dass im Zusammenhang mit der Waffenlieferung ein anderer Angeklagter mehr Schuld auf sich geladen hat: Ralf Wohlleben. Er soll die Beschaffung eingefädelt haben.
Bei der Frage, wer genau was getan hat, gehen die Versionen auseinander. Die von Carsten S. geht so: Als heimlich schwuler Jugendlicher geriet er Ende der Neunzigerjahre in die rechte Szene von Jena. Dort wurde er mit einer Aufgabe betraut, die er als Vertrauensbeweis verstand. Er hielt aus Telefonzellen konspirativ Kontakt zu Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die deutlich älteren Kameraden waren im Januar 1998 in den Untergrund geflüchtet.
Nach einiger Zeit forderten die Abgetauchten eine Pistole, „möglichst deutsches Fabrikat“, samt Munition. S. will daraufhin Wohlleben gefragt haben, der ihn wiederum an den Neonazi Andreas Sch. verwies – und ihm Geld für den Kauf zusteckte. Kamerad Sch. lieferte nach einiger Zeit die Waffe, die zwei Jahre zuvor legal in der Schweiz gekauft und über mehrere Glieder nach Deutschland geschmuggelt worden war. S. zeigte die Ware erst Wohlleben, dann übergab er sie in einer Hausruine in Chemnitz an Mundlos und Böhnhardt. Kurz darauf stieg er aus der rechten Szene aus.
Nach Meinung der Anwälte handelte S. nicht mit dem sogenannten bedingten Vorsatz. Den Tod von Menschen habe er also weder beabsichtigt noch in Kauf genommen – er habe schlicht außerhalb seiner Vorstellung gelegen. Mit anderen Worten: Er wurde aus Versehen Handlanger des Terrors. Die Frage, was S. stattdessen über den Einsatzzweck dachte, ist bis heute nicht recht geklärt. S. und seine Anwälte können damit leben. Ihre Strategie war von Anfang an: alles auf den Tisch legen. S. sei fest entschlossen gewesen, „sich zu bekennen“ – auch, wenn er nicht mehr wisse, was damals war, sagt Anwalt Pausch.
Problematisch nur, dass diese Erinnerungen in Teilen wie Beschönigungen wirken. Die Zeit in der Szene habe „Episodencharakter“ gehabt und seiner „Selbstfindung“ gedient, sagt Pausch. Nur vordergründig habe er die Ideologie „internalisiert“. Heißt: S. war eigentlich Demokrat in Bomberjacke.
Dennoch wurde der Mitläufer, der in der Naziszene nur nach Anerkennung gesucht haben will, stellvertretender Vorsitzender der NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten von Thüringen. Er sei aber kein Ideologe gewesen, sondern habe den Nachwuchsnazis Erlebnisse wie gemeinsame Nachtwanderungen bescheren sollen, argumentiert Anwalt Jacob Hösl. Zudem sei der Einstieg in die rechten Kreise im abgehängten Plattenbauviertel Jena-Winzerla „sozial-adäquat“ gewesen.
Zu der Pistole gehörte ein Schalldämpfer – einzig denkbarer Sinn: geräuscharmes Töten. Bis heute behauptet S., das Zubehörteil sei eben Teil des Lieferumfangs gewesen. Verkäufer Sch. behauptet das Gegenteil.
Fest steht für Verteidiger Hösl: S. war lediglich der „willfährige Adlatus“, also Gehilfe, seines damaligen Freunds Wohlleben, den er bewundert habe. Im Laufe des Verfahrens hatten beide Seiten versucht, den jeweils anderen als Hauptschuldigen hinzustellen. Wohlleben sagte, anders als S., erstmals 2015 im Prozess aus und behauptete, er habe geglaubt, Uwe Böhnhardt wolle die Waffe zum Selbstmord benutzen – mit Schalldämpfer, wohlgemerkt. Er habe S. auch nur zu Verkäufer Sch. geschickt, weil er geglaubt haben will, dort werde er keine Pistole bekommen.
Mehrmals hatten Wohllebens Verteidiger versucht, die Glaubwürdigkeit von S. mit neuen Zeugen zu beschädigen. Gelungen war es ihnen nie.
Beweise, die S.‘ Version vom ahnungslosen Helfer widerlegen, gibt es nicht. Das Gericht muss sich in ihn hineindenken, erraten, was S. damals umtrieb. „Das Gedächtnis ist ein feiger Hund, der uns nicht gehorcht“, meint Anwalt Pausch entschuldigend. Dennoch versichert er, was S. selbst wieder und wieder vor Gericht ausgeführt hatte: dass er seine moralische Schuld immer weiter bei sich tragen wird. „Ein Freispruch wird ihm diese Belastung nicht nehmen.“