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André E., der unschuldige Nationalsozialist

 

Die Verteidiger des mutmaßlichen NSU-Helfers André E. fordern Freispruch für ihren Mandanten. Über das Ende der Terrorgruppe haben sie eine skurrile Theorie.

Es gibt Verteidiger, die beginnen ihr Plädoyer mit einer Überraschung, die alles ändern soll. Anwalt Herbert Hedrich sagt hingegen über André E., angeklagt als Unterstützer des NSU, etwas, das jeder weiß: „Unser Mandant ist Nationalsozialist, der mit Haut und mit Haaren zu seiner politischen Überzeugung steht.“

Im Prozess um die Taten der rechtsextremen Terrorgruppe folgt der Anwalt einem bewährten Prinzip: zugeben, was nicht zu leugnen ist. Abstreiten, wo es nur geht. E.s Gesinnung ist unstrittig, sie lässt sich ablesen an der Tätowierung auf seinem Bauch – „Die Jew Die“, also „Stirb, Jude, stirb“, aber auch daran, dass er regelmäßig Neonazis grüßt, die als Unterstützer auf der Besuchertribüne Platz nehmen. Wie heute im Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. Auch E.s Frau Susann ist gekommen, sie darf neben ihm Platz nehmen und Händchen halten.

Wusste André E., wem er hilft?

Anwalt Hedrich hält an diesem Tag sein Plädoyer. Er und sein Kollege Michael Kaiser stehen unter Druck, seit die Bundesanwaltschaft vor einem halben Jahr zwölf Jahre Haft gegen E. gefordert hatte. Damit hatten weder der Angeklagte noch seine Anwälte gerechnet. E., der während des fünf Jahre dauernden NSU-Prozesses lange auf freiem Fuß war, wurde in Untersuchungshaft genommen, es gab Streit in der Verteidigung. Nun stemmt sich Hedrich gegen die Anklagebehörde, er fordert Freispruch für seinen Mandanten. André E. sei in keinem Anklagepunkt schuldig.

Die Bundesanwaltschaft wirft E. unter anderem vor, mehrmals Wohnmobile für den NSU gemietet zu haben. Mit einem davon fuhren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt laut Anklage im Dezember 2000 nach Köln und gaben eine als Stollendose getarnte Bombe in einem Lebensmittelgeschäft ab. Im Januar explodierte der Sprengsatz und verletzte die Tochter des Inhabers lebensgefährlich. Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zum versuchten Mord – E. soll genau gewusst haben, wem er da half und wobei.

Angesichts solcher Vorwürfe gab sich E., klein gewachsen und pummelig, im Prozess lange mehr als entspannt. Mal grinste er, mal las er, nie jedoch machte er den Eindruck, das Terrorverfahren ginge ihn irgendetwas an. Und das, obwohl er und seine Frau als wichtigste Helfer des NSU-Trios gelten. Jahrelang hielten sie Beate Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt die Treue, auch als diese von der Polizei gesucht im Untergrund lebten. Als der NSU im November 2011 aufflog, soll E. Zschäpe außerdem zum Bahnhof gefahren und ihr Kleidung seiner Frau gegeben haben. In seinem Wohnzimmer hing ein Kohleporträt der verstorbenen Mundlos und Böhnhardt.

Vorwürfe gegen die Bundesanwaltschaft

Für Verteidiger Hedrich sind Schilderungen wie diese nicht mehr als eine Schmutzkampagne der Bundesanwaltschaft, der er vorwirft, sie wolle Gesinnungsjustiz betreiben. „So jemandem ist alles zuzutrauen“, das sei die Devise der Behörde gewesen. Und das, obwohl E. sich niemals zu den Vorwürfen geäußert hat. Die Indizien im Prozess würden stattdessen als „Einlassungssurrogate“ herangezogen – wie seine Tätowierungen, sagt Hedrich in seiner Erklärung.

Schließlich widmet sich der Verteidiger dem zentralen Punkt: der Beteiligung am Sprengstoffanschlag. Dafür allein hatte die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer eine Strafe von acht Jahren gefordert. Anhand von sechs „Arbeitshypothesen“ argumentiert Hedrich, E. könne das Wohnmobil nicht für den NSU gemietet haben und es sei auch nicht für den Bombentransport genutzt worden.

So sei nicht bewiesen, dass E. persönlich den Mietvertrag schloss. Dass seine Fingerabdrücke auf der Auftragsbestätigung gefunden wurden? Das bedeute nichts, sagt Hedrich. Die NSU-Mitglieder könnten ihm das Papier später in ihrer Zwickauer Wohnung in die Hand gegeben haben. Dort wurde es gefunden.

Abkehr vom Terror?

Auch passt Hedrich zufolge der Zeitraum nicht. Er beruft sich auf die Aussagen der Inhaberfamilie, nach denen ein Mann zwei bis drei Tage vor Heiligabend den Weidenkorb mit der Bombe in dem Geschäft abgestellt habe. Am 21. Dezember wurde das Wohnmobil aber bei der Verleihstation in Chemnitz zurückgegeben. Die Bundesanwaltschaft legte die Angaben, die die traumatisierte Familie knapp einen Monat später machte, nicht so sehr auf die Goldwaage: Die Bombe habe genauso gut in den Tagen zuvor abgelegt worden sein können.

Angesichts der Argumente, die seine Verteidiger liefern, verwundert es, dass E. jahrelang so cool blieb. Anwalt Hedrich zieht schließlich noch eine verblüffende Erklärung über das Ende der Terrorgruppe NSU aus dem Ärmel. Das sei nämlich nicht 2011 gewesen, als sich Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall selbst töteten, sondern schon 2007. Damals erschossen die beiden Männer die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Weitere Morde folgten nicht, nur noch Banküberfälle.

Für Hedrich ist daher klar, dass Mundlos und Böhnhardt ab dann nur noch Geld für den Eigenbedarf raubten, der Terror vorbei war. Daher sei jegliche Hilfe, die E. dem Trio später zukommen ließ, keine Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gewesen – ein weiterer Anklagepunkt gegen E.

Warum die NSU-Mitglieder dann nicht die Beweise in ihrem Besitz vernichteten und ihr Leben im Untergrund beendeten, bleibt in dieser Theorie ungeklärt. Eine Frage, mit der sich die Richter beschäftigen müssen – während sie beraten, ob André E. für lange Zeit ins Gefängnis muss.