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„Vergiftete Indizien“

 

Im NSU-Prozess plädiert Beate Zschäpes Anwalt Wolfgang Stahl. Er meint: Egal, was seine Mandantin tut, alles lege die Anklage als Schuldbeweis aus. Hat er Recht?

Was macht einen Menschen zum Mörder? Muss er den Abzug einer Pistole betätigen oder reicht es, wenn er wohlwissend die Waffe beschafft? Muss er im Fluchtwagen mit laufendem Motor warten oder genügt es, wenn er dafür sorgt, dass die Nachbarn daheim keinen Verdacht schöpfen?

An Fragen wie diesen hängen Jura-Klausuren, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs – und das Urteil, das in wenigen Wochen im NSU-Prozess fallen könnte. Das komplizierte Rechtskonstrukt der Mittäterschaft entscheidet darüber, ob die Hauptangeklagte Beate Zschäpe für mehrere Jahrzehnte ins Gefängnis geht. Denn laut Anklage machte sie sich an den Taten der rechtsterroristischen Gruppe genauso schuldig wie ihre Mitbewohner Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Ihr droht dieselbe Strafe wie den beiden, wenn sie noch leben würden, ohne jemals selbst geschossen zu haben auf eines der zehn Mordopfer, ohne bei den zwei Bombenanschlägen selbst den Zünder ausgelöst zu haben.

Nur eine Frage der Interpretation?

Zuständig für die delikaten juristischen Details ist in Zschäpes Verteidigung ihr Anwalt Wolfgang Stahl, nachdem sein Kollege Wolfgang Heer in der Vorwoche drei Tag lang über Zschäpes Rolle beim Brand der Wohnung des NSU-Trios referiert und ihre sofortige Freilassung gefordert hatte. Stahls Schlussvortrag soll in den Grundfesten erschüttern, was für viele Beteiligte nach fünf Jahren Prozess wie Gewissheit erscheint. Doch gewiss, macht Stahl deutlich, ist hier gar nichts. Vieles ist eine Frage der Interpretation.

Während Mundlos und Böhnhardt in Deutschland herumfuhren, um zu Morden, Bomben zu zünden und Banken auszurauben, blieb Zschäpe zurück in Zwickau – der Stadt, in die das Trio geflüchtet war, nachdem Polizisten im Jahr 1998 Bomben in einer von Zschäpe gemieteten Garage in Jena gefunden hatten. Sie hielt daheim die „Stallwache“, so hatte es Oberstaatsanwältin Anette Greger formuliert. Sie habe für die „Abtarnung“ vor möglicherweise zu neugierigen Nachbarn gesorgt, heißt es in der Anklage. Sie habe von den Taten gewusst, Tarndokumente und Waffen mitbeschafft, die Kasse verwaltet. Wer da die Pistole abfeuerte, falle nicht mehr ins Gewicht, argumentiert die Bundesanwaltschaft. Die Vertreter der Anklage fordern lebenslange Haft.

„Unfair“ und „parteiisch“

Dazu hat Stahl naturgemäß eine völlig andere Auffassung. Es scheinen  weniger die Argumente der Anklage zu sein, die ihn aufregen, als die Motivation, die er dahinter vermutet: „Hochgradig unfair“ sei das Plädoyer, es zeige eine „schon parteiisch anmutende Einseitigkeit“. Die Ankläger hätten sich gar nicht die Mühe eines Für und Wider gemacht.

Der Trick, den Stahl durchschaut haben will: Mit Zschäpe als von Grund auf böser Person im Kopf lasse sich jeder beliebige Fakt als Schuldbeweis umdeuten, „so wird jedes Indiz vergiftet“.

Ein Beispiel: Das Archiv mit 68 Zeitungsartikeln über die NSU-Morde, das in der Wohnung des Trios gefunden wurde. Zusammengestellt wurde die Sammlung laut Bundesanwaltschaft von Zschäpe, Indiz dafür seien Fingerabdruck- und DNA-Spuren auf dem Zeitungspapier. Stahl hält dagegen: Die Spuren finden sich gerade einmal auf zwei der Ausschnitte. Die Spuren könnten beim Aufräumen entstanden sein; wer das Archiv verwaltete, hätte deutlich mehr Spuren hinterlassen müssen – das Indiz spreche also nicht gegen, sondern für Zschäpe.

Showdown beim Bundesgerichtshof?

Ähnlich verhalte es sich mit der „Stallwache“: Die Angeklagte habe nichts getan außer zu Hause zu bleiben – das soll schon Terrorismus sein? Für Stahl wieder ein Fall hochgradig unfairer Auslegung: „Wer mit Verbrechern zusammenlebt, ist selbst ein Verbrecher. Das ist methodisch verfehlt und im Ergebnis zirkelschlüssig.“

Für den Nachweis der Mittäterschaft brauche es viel mehr – den Willen zur sogenannten Tatherrschaft. Das heißt: Ohne den Mittäter gelingt das Verbrechen nicht, er ist eine Schlüsselfigur und fest entschlossen. Strenge Maßstäbe an die Mittäterschaft legte in der Vergangenheit der dritte Senat des Bundesgerichtshofs an, wie Stahl immer wieder erwähnt. Dieselben Richter wären zuständig, wenn Zschäpes Verteidiger gegen das Münchner Urteil in Revision gehen.

Bekannte Botschaft

Weder die implizite Drohung noch die anderen Vorwürfe sind zum ersten Mal zu hören: Vor anderthalb Monaten hatten bereits Zschäpes Neuverteidiger Hermann Borchert und Mathias Grasel ihr Plädoyer gehalten und darin eine Strafe von höchstens zehn Jahren gefordert. Die beiden Anwälte hatten vor allem drastische Kritik an Richtern und Bundesanwaltschaft vorgebracht – die Botschaft war jedoch dieselbe wie jetzt bei Stahl: Für eine Mittäterschaft Zschäpes gebe es keine stichhaltigen Belege.

Die Betroffene selbst ist entsprechend unbeeindruckt. Zschäpe, die mit ihren Stammanwälten seit Jahren nicht mehr spricht, schaut höchstens noch zu Stahl herüber, wenn das kleine Holzpult vor ihm mal wieder im weiten Ärmel seiner Robe hängenbleibt und geräuschvoll auf Tisch kracht.

Ähnlich teilnahmslos wirken die Vertreter der Bundesanwaltschaft. Sie scheinen keine Zweifel zu haben, dass ihre Version von Zschäpes Schuld Bestand haben wird.