Der Streit um die V-Männer im NSU-Komplex geht weiter. Opferanwälte fordern mehr Aufklärung, die Ankläger bremsen. Damit brechen im Terrorverfahren alte Konflikte auf.
An der Rückwand von Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichtes beherbergt ein Holzregal Hunderte Ordner mit Ermittlungsakten, die die NSU-Verbrechen belegen. Jetzt wurde die obere Reihe leer geräumt. Es wäre Platz für neue Erkenntnisse im bald drei Jahre dauernden Terrorverfahren – doch wo die herkommen sollen, ist unklar.
Ermittlungen zur Zwickauer Terrorzelle laufen weiterhin unter Federführung des Generalbundesanwalts in Karlsruhe – allerdings in einem nicht-öffentlichen Ermittlungsverfahren, in das kein Prozessbeteiligter Einblick hat, wie die Welt am Sonntag vergangene Woche berichtete. Bei den Ermittlungen geht es um die Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex. Dazu würden die Anwälte der Opfer und Hinterbliebenen gerne mehr erfahren. Doch weder können sie Einsicht in die laufenden Ermittlungen nehmen noch gelingt es ihnen, im Prozess nach neuen Informationen zu forschen. Das sorgt für gereizte Stimmung.
Die Bundesanwaltschaft hat derzeit keinen guten Stand, weil sich die Vertreter der Behörde in der Verhandlung laufend gegen neue Erhebungen sperren. Willkür ist dabei nicht im Spiel. Alle Anträge der Juristen in roten Roben fußen auf streng juristischer Argumentation. Dennoch sind die Ankläger nicht verpflichtet, sich überhaupt zu den Forderungen der Nebenkläger zu äußern. In der Regel lassen sie jedoch keine Gelegenheit aus, Bedenken vorzutragen. Die Richter, in deren Hand die Entscheidung über die Anträge liegt, schließen sich meist an.
Am Donnerstag standen wieder Stellungnahmen an. Die Ankläger forderten, einen Antrag der Anwältin Doris Dierbach abzulehnen, mit dem ein möglicherweise eklatantes Behördenversagen geklärt werden sollte. Demnach verhinderte der Brandenburger Verfassungsschutz 1998 möglicherweise die Festnahme der gerade Untergetauchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die Behörde weigerte sich, ein Dokument mit Informationen eines V-Manns herauszugeben – dies wäre aber Voraussetzung für die Überwachung eines Kontaktmanns des Trios gewesen. Anwältin Dierbach wollte Unterlagen und Zeugen in den Prozess einführen lassen, die bestätigen sollten, dass der Geheimdienst die Informationen für sich behielt, um seine Quelle zu schützen. Ein wichtiger Aspekt der NSU-Verstrickungen, nach Ansicht der Bundesanwaltschaft jedoch „ohne Bedeutung“ für die Straf- und Schuldfrage.
Ähnlich der Vorfall, der sich am Vortag ereignet hatte. Da wandten sich die Ankläger gegen den Antrag, Ralf M. als Zeugen zu laden. M. ist einer Enthüllung zufolge nicht nur V-Mann, sondern war auch kurzzeitig Arbeitgeber von Uwe Mundlos. Auch hier lautete die Begründung, dass der Aspekt für die Straf- und Schuldfrage irrelevant sei. Einige der Nebenklagevertreter mussten daraufhin ihrer Frustration gleich im Gerichtssaal Luft machen: „Was wissen Sie? Was wollen Sie schützen?“, fragte Anwalt Alexander Hoffmann Bundesanwalt Herbert Diemer.
Kollege Sebastian Scharmer sagte, man habe in der Vergangenheit – als die Ankläger sich noch häufiger auf Anträge der Nebenklage einließen – „eine ganze Reihe von Quartiermachern und Unterstützern“ als Zeugen geladen. Und nun sollte ein V-Mann dem Gericht fernbleiben, der direkt mit einem der mutmaßlichen Täter in Kontakt stand? Dafür fehle das Verständnis.
Schon einmal war der NSU-Prozess an diesem Punkt: Nach einem knappen Jahr oder 100 Prozesstagen hatte sich ein tiefer Graben zwischen Bundesanwaltschaft und Nebenklägern aufgetan. Damals fuhr Bundesanwalt Diemer teils auch bei einzelnen Fragen an Zeugen dazwischen, die seiner Meinung nach nichts im Prozess zu suchen hatten. Auch verwahrte sich die Behörde strikt dagegen, Ermittlungsakten über den Verfassungsschützer Andreas T. nach München zu schaffen, der beim Mord an dem Kasseler Halit Yozgat 2006 am Tatort war. Damals beklagten Nebenkläger, dass man nicht mehr mit-, sondern nur noch gegeneinander rede. Eine präzise Beschreibung der heutigen Atmosphäre im Gerichtssaal A101.
Immerhin, geredet wird noch, und das teils ziemlich wortreich. Zum Antrag über den Brandenburger Verfassungsschutz, der die Ergreifung des flüchtigen Trios verhindert haben soll, führte Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten ausführlich aus, warum der Fall für den NSU-Prozess bedeutungslos sei. So könne sich eine Mitverantwortung des Staats nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durchaus schuldmindernd auswirken – allerdings nicht in jedem Fall und auch nicht in diesem. Denn: Ein Straftäter habe keinen Anspruch darauf, „dass die Strafverfolgungsbehörden rechtzeitig einschreiten, um weitere Straftaten zu verhindern“. Damit die Schuld eines Angeklagten durch staatliches Versagen tatsächlich gemindert wird, brauche es mehr – nämlich „eine kausale Mitverursachung der Tat durch staatliche Stellen“.